Nicodemus
Flügeln. Wieder besah sich Nicodemus dieses blasse, zarte Wesen und war von dessen unendlicher Schönheit hingerissen.
Für ihn war der Falter Tier und Gedicht zugleich.
Er versuchte etwas zu sagen, um der Ehrfurcht, die wie eine Droge durch seine Adern pulsierte, Ausdruck verleihen, doch er flüsterte nur verzückt: »Nie habe ich einen schöneren Zauber gesehen.«
»Ganz gleich welches lebendige Wesen Ihr berührt, Ihr werdetimmer auf die gleiche Sprache stoßen«, sagte Chimära in einem Singsang. »Ich könnte Euch mit der Prosa eines Eichenblatts oder eines Forellenmagens versorgen und könnte Euch sogar die winzigen Dinger zeigen, die Wunden infizieren. In allem werdet Ihr Primus erkennen. Darum heißt dieses Buch auch Bestiarium. Jede Pflanze und jedes Biest wurde mit der Sprache des Schöpfers, durch seinen Gotteszauber, geschaffen.
Und Nicodemus begriff: »Leben ist magische Sprache.«
Allmählich erwachte Nicodemus aus seiner Trance. Er griff sich an die Stirn, als ihm die Tragweite dieser Erkenntnis klar zu werden begann. »Wenn das Leben also Sprache ist … dann könnten Primuszauberschreiber Krankheiten eliminieren, Wunden schließen und Heilungsprozesse fördern, sogar Weizen umschreiben, damit er mehr Ertrag bringt.«
Amüsiert schnaubte Chimära. »Dann versteht Ihr sicher, dass das Solare Reich das Paradies war. Unter der Herrschaft der Kaiserfamilie gab es weder Krankheit noch Hungersnot.«
»Woher wisst Ihr das, Chimära?«
Sie seuftze tief und zischelnd. »Ich war die älteste und unzufriedenste Göttin der Alten Welt. Mit der Ursprungssprache hatte ich Großes vor, denn ich wollte eine neue Gattung von Menschen schreiben. Der Kaiser hingegen hat Primus nur dazu genutzt, um das Leben, so wie es war, zu verbessern, und nicht, um neues Leben zu schaffen. Mir schien es, als würden wir auf eine Stagnation zutreiben. Und als Los geboren wurde, wusste ich, dass ich recht gehabt hatte.«
»Ihr habt Los gekannt, den ersten Dämon?«
Wieder seufzte Chimära. »Ich habe ihn noch vor seiner Rebellion gekannt und wusste, was er mit Primus vorhatte. Deshalb bin ich auch der Alten Welt entflohen, zumal das Reich mir jegliche Textexperimente verboten hatte. Also habe ich meine Anhänger mit über das Meer in die neue Welt gebracht. Hier habe ich sie in die Chimärer verwandelt.«
Auf einmal kam Nicodemus ein Gedanke. »Die Chthonen waren also einst Menschen?«
»Das waren sie. Und ebenso die Kobolde, die Goblins, die Werwölfe, die Wasserwesen, die Barbaren und viele andere. Am Anfang war dieses Land ein Paradies, doch dann begannen sich meine Völker untereinander zu bekriegen. In der Hoffnung, sie zu beherrschen, habe ich meine Seele gespalten und die einzelnen Teile in die verschiedenen Bestiarien gegeben. Jeder Stamm erhielt drei Bücher. Doch meine Mühe war vergebens. Die Unterschiede zwischen den chimärischen Völkern waren zu groß geworden. Als Eure Vorfahren dann über den Ozean kamen, waren meine Völker bereits zerstritten.«
Sie hielt inne und zischte leise. »Zunächst hoffte ich Euresgleichen zurückzutreiben, denn Eure Gottheiten waren damals noch sehr schwach. Um dem dämonischen Heer zu entkommen und das Wasser zu überqueren, mussten sie sich in ihre Schreine zurückziehen. Dadurch hatten sie beinahe alles vergessen, selbst Primus. Und Eure kaiserliche Familie war übers ganze Land verstreut. Doch meine Völker, gespalten wie sie waren, konnten es mit den Menschen nicht aufnehmen. Sobald Eure Vorfahren in dieser Welt Fuß gefasst hatten, haben sie meine Völker einfach abgeschlachtet.«
Nicodemus wählte seine nächsten Worte mit Bedacht. »Chimära, warum habt Ihr mich Primus gelehrt? Das ist ein außerordentliches Geschenk.«
Lange Zeit antwortete sie ihm nicht, so dass Nicodemus schon fürchtete, sie sei verschwunden. »Ich habe Euch das bitterste Wissen überhaupt beschert. Hier beginnt Euer Leidensweg.«
»Was meint Ihr damit?«
»Denkt doch nur, welche Folgen es hat, nun da Ihr die Ursprache beherrscht.«
Nicodemus legte die Stirn in Falten. »Von nun an wird für mich alles Lebendige erstrahlen. Doch … eines verstehe ich nicht. Warum löst Primus bei mir oder auch bei anderen Zauberern keine synästhetische Reaktion aus?«
»Primusrunen sind sehr schwach. Außerhalb eines lebendigen Körpers können sie nur wenig ausrichten. Menschliche Synästhesie ist nicht empfindsam genug, um sie wahrzunehmen.« Chimära zögerte. »Doch Ihr habt noch nicht hinlänglich
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