Nicodemus
fluchte Deidre. »Hör auf wie ein tollwütiger Werwolf zu denken. Wir können ihn nicht einfach ›ergreifen‹. Natürlich muss er möglichst schnell zum Schrein der Göttin gebracht werden, aber so einfach geht das nicht. Du darfst unsere Flucht nicht vergessen, und wie die Zauberer möglicherweise darauf reagieren könnten. Nicodemus muss freiwillig mitkommen.«
Ihr Protektor schwieg eine Weile. »Er fasziniert dich«, wiederholte er schließlich.
»Er ist doch noch ein Kind.«
Ein neuerlicher Tarntext hüllte Kyrans Hüften in Dunkelheit, machte ihn wieder unsichtbar. Stumm starrte er sie an, während die Tarnung sich weiter bis zu seinen Schultern wand.
Sie warf ihm einen bösen Blick zu. »Bist du etwa eifersüchtig?«
»Kein bisschen.« Nun bedeckte der Text bereits sein Kinn. »Ich kann mich noch gut an die Zeit erinnern, als du von mir fasziniert warst, deshalb beneide ich den Jungen nicht.« Seine Augen schauten noch einmal sehr sanft, bevor sie ganz verschwanden. »Er tut mir eher leid.«Hoch oben, auf einem von Wasserspeiern unbesetzten Vorsprung eines leerstehenden Turmes, kauerte das Wesen und blickte hinab auf den mondbeschienenen Stone Court. Ein Junge in Schwarz steuerte auf den Speicherturm zu. Zwei weißgekleidete Gestalten standen inmitten der Obelisken.
»Druiden«, murrte das Wesen. »Ich kann Druiden auf den Tod nicht ausstehen.«
Die beiden weiß Gewandeten hatten seine Pläne, sich den Jungen zu schnappen, vereitelt. Es hätte gleich reagieren, in den Hof stürmen, die beiden töten und die Magie des Jungen bannen sollen. Doch ihr unerwartetes Auftauchen hatte ihn zu viel Zeit gekostet; und soeben hatte es einen Zauberer erblickt, der in einem der benachbarten Höfe zwei neue Schutzzauber postiert hatte. Höchste Zeit zu verschwinden.
Abgesehen von dieser verpassten Gelegenheit könnten ihm die weiß Gewandeten noch weitaus größere Probleme bereiten. Vor langer Zeit, in der Alten Welt, hatte das Wesen den Druiden damals – in der Blütezeit ihrer Magie – schon einmal gegenübergestanden. Jahrtausende waren seither vergangen, und heute waren die Druiden kaum mehr als Gärtner und Tischler. Und doch kannten sie sich mit alter Magie besser aus als selbst die Zauberer. Hier musste vorsichtig zu Werke gegangen werden, sonst könnten es die Druiden ihm so gut wie unmöglich machen, an den Jungen heranzukommen.
Der kalte Herbstwind zerrte an seinen Kleidern, dass sie nur so flatterten. Als das Wesen vom Sims kroch, taten ihm die Beine weh und es spürte einen dumpfen, pochenden Schmerz in den Oberarmen.
Dieser Körper würde nicht mehr lange halten.
»Macht nichts«, murmelte es und wandte Stone Court den Rücken zu. Vielleicht würde sich ja ein angesehener Zauberer oder ein Druide abseits der bewohnten Viertel verirren. Einstweilen würde es ein paar Albträume schreiben.
Kapitel 6
Dort, wo Amadi saß, sah Shannon nichts als Dunkelheit. Mehr als jemals zuvor ängstigte ihn seine Blindheit und machte ihn wütend.
»Du glaubst also«, sagte er und zwang sich, ruhig zu bleiben, »dass ich Nora Finn von der Spindle Brücke gestoßen habe?«
»Ich suche überall nach der Wahrheit«, gab Amadi gelassen zurück.
Shannon hatte sich so fest in die Armlehnen seines Stuhls verkrallt, dass ihm die Finger schmerzten. Waren ihre Anschuldigungen lediglich ein verkappter Angriff auf ihn, oder waren sie doch ein ernsthafter Versuch, diesen Mordfall aufzuklären?
»Das ist doch alles lächerlich. Ich habe nicht das Geringste mit Noras Tod zu tun.« Er erhob sich und ging zum Fenster. »Siehst du etwa Blut an mir? Blut von Nora oder mein eigenes?«
Das Quietschen von Amadis Stuhl verriet ihm, dass auch sie aufgestanden war. »Magister, die Leiche wurde vor fünf Stunden entdeckt. Der Schurke hatte reichlich Zeit, alle Spuren zu beseitigen. Und Ihr steht mit dem Mord in Verbindung – gleich zweimal. Vor vier Tagen kam ein Colaboris-Zauber aus Astrophell, der Magistra Finn den Lehrstuhl zuerkannt hat, um den Ihr beide gerungen habt.«
»Also habe ich Nora getötet, um sie um ihre Auszeichnungen zu bringen?« Er blickte zum Fenster hinaus. »Flammendes Blut! Glaubst du im Ernst –«
»Zweitens«, unterbrach Amadi ihn, »Magistra Finns Leiche war von verunstalteten Wörtern durchlöchert, und Ihr seid Starhavens Fachmann für Kakographie.«
»Ich bin Linguist und erforsche die Intelligenz von Texten. Natürlich untersuche ich auch fehlerhafte Texte und ihre Wiederherstellung.«
Er hörte
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