Nicodemus
Einbruch der Dunkelheit widmete sich Nicodemus dann selbständig dem Studium der chthonischen Sprachen.
Der erste Monat war langsam vergangen, da schickte ihnen der Herbst eisige Schauer. Die Kälte färbte die obersten Blätter des Himmelbaums rot. Nicht ein einziges Mal musste Shannon logorrhöische Ausdrücke erbrechen. Offenbar war es Nicodemus mit dem Smaragd gelungen, die Geschwulst in den Griff zu bekommen. Mit zunehmender Kälte erröteten auch die tieferen Blattschichten des Baums, doch kaum eines fiel herab.
Eine Zeit der Gespräche und der Gedanken brach heran. Nach dem Abendessen saßen Shannon und Nicodemus noch lange amFeuer zusammen; sie erinnerten sich, wie tapfer Simple John gewesen war, und trauerten um Devin.
Bei nur drei Bewohnern konnte es einsam im Tal werden. Unterrichtsstunden und Gespräche endeten bisweilen im Schweigen.
Deshalb unternahm Nicodemus oft abendliche Streifzüge durch die Gegend. Er durchwanderte das Tal bis in den letzten Winkel und entdeckte entlegene Grotten und Höhlen. Lernte Kaninchen und Ziegen zu jagen, im dunklen Wasser des Sees zu fischen. Doch mit dem Kochen tat er sich schwer. Bei jeder Mahlzeit, die er zubereitete, musste er erneut Shannons gutmütigen, aber dennoch sehr lebhaften Spott über sich ergehen lassen.
Nach dem Nachmittagsunterricht wanderte Nicodemus gerne durchs grüne Tal. Oft dachte er dabei an Devin und Kyran und wurde ganz bekümmert, oder Deidre kam ihm in den Sinn. Dann packte ihn große Ungeduld. Nach wie vor verstrich die Zeit sehr langsam.
Eines Nachts wurde Nicodemus von Boanns Rufen geweckt. Er fand die Göttin draußen auf dem Kopfsteinpflaster vor dem Haus. Drei volle Monde standen am Himmel. Ihre Strahlen wurden durch die schweren Äste gefiltert und tauchten das Tal in diffuses Licht.
»Begleitet mich zum See«, sagte die Göttin in ihrem ruhigen Singsang. Nicodemus folgte ihr aus der kleinen chthonischen Stadt, hinaus auf ein Feld mit hüfthohem Gras. »Heute Nacht«, sagte sie, »beginnt Eure Ausbildung, bei der weder Shannon noch ich Euch helfen können.«
Nicodemus verzog das Gesicht, sagte aber nichts. Vom leicht erhöhten, grasbewachsenen Ufer aus konnten sie den gesamten See überblicken. Im Mondlicht schimmerte das bei Tage durchsichtige Wasser schwarz wie Tinte. »Wenn wir von hier fortgehen, werdet Ihr in größtmöglicher Gefahr …«
»Göttin«, zischte Nicodemus und begab sich in Kauerstellung. »Bewegt Euch nicht. Dort oben auf dem Felsen steht ein getarnter Kobold-Zauberschreiber. Seine Prosa ist ein einziges Geschmiere.« Nicodemus duckte sich noch tiefer ins hohe Gras. Die Gestalt war von violetten Sätzen schwach erleuchtet. Der Kobold kauerte auf einem Felsbrocken, der das Wasser überragte, seiner Silhouette nachzu urteilen blickte er in Richtung See. »Ich glaube nicht, dass er uns gesehen hat«, wisperte Nicodemus.
Boann rührte sich nicht. »Sie nennen es Kriegsspiel«, sagte sie gefasst. »Junge Kobolde lernen dabei, inmitten der ständigen Stammesfehden zu überleben. Ich sage Euch das, weil sie Euch für den Auserwählten halten, der ihnen laut Prophezeiung zu dem Ruhm und der Ehre zurückverhelfen soll, die sie genossen, bevor das Neosolare Reich ihre Königreiche zerstört hat.«
»Sprecht leise«, flüsterte Nicodemus und zückte den auf seine Hüfte tätowierten Angriffszauber. Er entfaltete den Text zu einem breiten, flackernden Schwert, das er flach hielt, um seinen Glanz im Gras zu verbergen.
»Jede Nacht werden sie Euch eine neue Lektion erteilen. Soviel ich weiß, geht es heute Nacht um die Wirksamkeit eines Lockvogels.«
Nicodemus erstarrte und sah die Göttin verwundert an. »Ein Lockvo …«
Der Kobold griff ihn von hinten an und umklammerte mit stoffgeschützten Armen seinen Brustkorb. Durch die ungeheure Wucht des Angriffs glitt Nicodemus das Schwert aus den Händen, und sowohl er als auch der Kobold flogen durch die Luft. Einen schrecklichen Moment lang stieß der Kobold ein triumphierendes Geheul aus, dann klatschte es mächtig, als sie beide in den See tauchten. Sich heftig windend schlug Nicodemus mit der Faust zu, dann griff er nach dem Sprengzauber, den er sich auf den Rücken geschrieben hatte.
Boann sah zu, wie Nicodemus und der Kobold ins Wasser abtauchten. Neben ihr legten Shannon und ein uralter Koboldstammesführer ihre Tarntexte ab. Shannon räusperte sich. »War es wirklich notwendig, den Jungen zu hintergehen? Wir hätten ihm doch zumindest sagen können, dass Ihr
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