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Nie mehr Nacht (German Edition)

Nie mehr Nacht (German Edition)

Titel: Nie mehr Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Bonné
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diesen Namen auf Hemden, Blusen und Mützen getragen.
    Liliths Schrift zu sehen, verwirrte mich noch mehr. Ihre kleinen, sauber gesetzten, fast wie gedruckt wirkenden Buchstaben in schwarzer Tinte ähnelten nicht mal entfernt Iras Handschrift. Woher kannte sie meine Adresse? Sie hatte nur wenige Sätze geschrieben, in jedem aber lag die Zurückhaltung, die mich in Cherbourg so verblüfft hatte, und darum verwunderte mich nicht, dass sie mit einer Entschuldigung begann.
    »Lieber Markus Lee!«, las ich mit zusammengekniffenen Augen. »Verzeihen Sie, wenn ich Ihnen nachspioniere, aber es war nicht auszuhalten, deshalb habe ich Ihre Freundin Annik angerufen und sie mit Fragen gelöchert.
    Jetzt weiß ich wenigstens etwas von Ihnen und verstehe Sie besser. Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen. Vielleicht … kann ich Ihnen helfen!
    Es würde mich froh machen, sehr, wenn Sie mich noch einmal sehen wollen.
    Lilith«
    Die Zimmer im zweiten Stock, die Juhls, Jesse und ich zwei Monate zuvor bewohnt hatten, waren lange gereinigt und von allen Spuren gesäubert. Noch einmal schritt ich durch die Korridorgalerie und betrachtete, ohne es wirklich zu sehen, dieses oder jenes liebgewonnene Bild. Ich wusste, es war das letzte Mal, dass ich allein hier oben war. Die Abschiede begannen.
    In meinem früheren, meinem fast gänzlich leer geräumten ersten Zimmer nahm ich das Bild von der Wand über der Heizung. Das Foto von den Zwillingen steckte hinter Glas in einem alten Holzrahmen, dessen einstiger Goldlack fast überall abgeblättert war. Es brauchte einige Zeit, bis sich die Schwarzweißfotografie herauslösen ließ. Ihre vergilbte Rückseite war bis auf ein paar Bleistiftziffern leer.
    Ich steckte Liliths Karte in den Rahmen und hängte das Bild von der Kitty an den Nagel über dem Heizkörper. Dabei dachte ich an nichts Bestimmtes, zögerte nicht, zweifelte nicht, wusste genau, was geschehen würde und dass es nicht zu ändern war. Ich ging hinunter in die Lobby. Ich hauchte dem Telefon neues Leben ein. Ich rief die Auskunft an und brachte es fertig, die Adresse des Supermanche-Fährbüros in Cherbourg-Octeville in Erfahrung zu bringen. Sie schrieb ich auf die Rückseite des Fotos, versah meine Karte mit einer Briefmarke aus dem Heftchen, das Maybritt in der Hotelküche liegengelassen hatte, und setzte mich dort an den Tisch.
    Ich schrieb: »Aus welchem Grund sollte ich Sie wiedersehen wollen? Jeder Vorschlag ist ein Rückschlag. Geholfen haben Sie mir bereits, mehr, als Sie ahnen. Ich wünsche Ihnen, was ich mir selbst wünsche, Tag und Nacht ein Gespür für das Glück. Sie waren freundlich, Lilith, dafür danke ich Ihnen von Herzen.«
    An der Rezeption klingelte das Telefon, obwohl ich keinen Anruf erwartete und nicht vorhatte, mit jemandem zu reden. Bestimmt war es Annik, die mir beichten wollte, was sie alles ausgeplaudert hatte. Ich ging nach oben, zog den Stecker aus der Holzvertäfelung und lauschte dem Verhallen des Lärms, bis es wieder ganz still war. Annik meint es nur gut, sagte ich mir. Maybritt Juhl – sie meint es nur gut. Und genauso Lilith. Alle meinten es gut mit mir, nur ich selbst, ich meinte es nicht länger gut noch schlecht mit mir, sondern meinte gar nichts mehr. Ich setzte mich in die Bibliothek und fing an zu warten, wartete auf den Abend, holte mir Wein und Brot, aß und trank und wartete auf die Nacht, wartete auf den Morgen und den Mittag. Als der Postbote kam, eilte ich hinaus, lief ihm nach über den verschneiten Kiesweg jenseits der Mauer und drückte ihm das frankierte Zwillingsfoto in die Hand.

12
    W enig später wurde es bitterkalt, und ein so starker Wind wehte über die See, dass ich nur noch selten nach draußen ging. Auch im Hotel trug ich meine beiden Pullover übereinander und zwang mich, den Anorak nur überzuziehen, wenn ich am frühen Nachmittag zum Briefkasten stapfte und anschließend eine kleine Runde drehte. Nur ein einziges Mal kam Post, ein auf winzige Größe zusammengefalteter Brief von Catinka, auf dessen Rückseite sie offenbar mich gezeichnet hatte, mich mit einem Mädchen an der Hand, das eigentlich eine Blume war. Ich trug den Brief eine Weile ungelesen mit mir herum, während ich mich vom Wind durch das Dorf und über den Strand treiben ließ. Erst als ich aus dem Nebeldunst das blasse Gelb des L’Angleterre aufsteigen sah, las ich Cats Zeilen und war erschüttert von der Zärtlichkeit, die sich ausgerechnet an mich richtete.
    Die oberen Stockwerke betrat ich

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