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Nie mehr Nacht (German Edition)

Nie mehr Nacht (German Edition)

Titel: Nie mehr Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Bonné
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ich im Bus saß und losfuhr, sah ich ihn an der Straße stehen und wie er sich langsam wieder auf den Weg machte, dorthin, wo keiner auf ihn wartete.
    In der Stadt ging ich ohne Umwege in die erstbeste Bankfiliale. Ein Automat druckte mir den Stand meines Kontos aus. So erfuhr ich, dass meine Exfrau Saskia mein Studio und die Wohnung weitervermietet, die Einrichtung verkauft und mir dafür eine ordentliche Summe überwiesen hatte. Das Konto aufzulösen, gelang mir nicht. Der Bankangestellte hinter dem Schalter musterte mich entgeistert.
    »Ich möchte es nicht mehr haben, es soll verschwinden«, sagte ich hilflos auf Französisch und mitten hinein in sein Kopfschütteln. Schließlich hob ich so viel Geld ab, wie mir gestattet war, und legte EC -Karte und Kreditkarten auf den Schalter. »Machen Sie damit, was Sie wollen.« Der Angestellte schob die Karten zu mir zurück, er verstand keinen Spaß. Ich steckte sie ein und lachte ihn aus.
    Die ausgezahlte Summe würde meinen Lebensunterhalt für mindestens anderthalb Jahre sichern. Das Geld in die Anoraktaschen gestopft, trat ich ins Freie. Es nieselte nicht länger, sondern schneite schon beinahe, ein Graupelregen, der mich verdrießlich stimmte und frösteln ließ. Ich ging zurück zum Busbahnhof. In einen Mülleimer warf ich alles, was in meiner Brieftasche steckte, EC -Karte, Kreditkarten, Versichertenkarte, Visitenkarten, Führerschein, Ausweis. Ich nahm das Geld aus der Börse und warf die Börse weg. Als ich im Bus saß, fühlte ich mich erstaunlich leicht. Alle kummervolle Bürde verlor also an Gewicht, wenn man begann, niemand mehr zu sein. Ein Kilo wog vielleicht noch vierhundert Gramm, mehr nicht. Die Fahrt zurück nach Marigny dauerte eine Stunde, und ich nahm mir vor, bis dahin einen Plan zu fassen, was weiter mit mir geschehen sollte.
    Ich fragte mich, ob es nicht besser war, wenn ich auch aus Frankreich verschwand, wenn ich über den Kanal setzte und nach England ging, wo keiner, wirklich keiner mich kannte und finden würde. Dort verstand man mich wenigstens. In England konnte ich untertauchen, irgendwo auf dem Land leben, vielleicht an der Küste, wo es im Frühjahr schnell wärmer wurde. Und über mein Wiederauftauchen konnte ich mir auch in Bournemouth, oder wo immer es mich hinverschlug, den Kopf zerbrechen. Außer meinen Schuhen, meiner Kleidung, ein wenig Wechselwäsche und dem Haufen Geld, den ich lose bei mir trug, besaß ich nichts. Das Fahrrad stand in Marigny, ich brauchte es nicht mehr. An Maybritts und Catinkas Fenster stehend, blickte ich in den Schnee, der jetzt im Winter auf die Steilküste niedersank, und sah zu, wie Gras, Sand und Erdboden alle die Flocken aufnahmen und schmelzen ließen. So, genau so war es mit meinen Empfindungen. Pausenlos dachte ich nach über Ira, Jesse, meine Eltern, Juhls, Annik und Lilith, doch kam zu keinem Ergebnis, keiner Entscheidung, nicht mal einem Schluss, sondern machte einfach weiter und begann noch einmal von vorn. Ich war überzeugt, noch wenn ich niemand mehr wäre und gar nichts mehr hätte, nicht mal mehr Kleider am Leib, nackt nur daläge im Schnee und allmählich zuschneite, ich würde noch immer sogar verdrängen, dass es überhaupt kalt war.
    Ich lenkte mich ab, indem ich meinen Rückzug vorbereitete. Jeden Tag ging ich durch die oberen Stockwerke und reinigte vier, manchmal sogar sechs Zimmer. Ich harkte das letzte Laub zusammen und räumte das Gerätehaus zu Ende auf. Nachmittags sah ich nach, ob Post gekommen war. Die Abende verbrachte ich in der Bibliothek, aß etwas, spielte Billard oder las eine weitere Story von Hemingway und trank dabei den Weißwein, der nicht weniger werden wollte. Erst wenn wieder zwei der Flaschen leer waren, wankte ich in eines der eiskalten Zimmer.
    An einem Tag in der zweiten Dezemberwoche stapfte ich über die Schneedecke im Hotelhof zum Pförtnerhaus und fand im Briefkasten eine Ansichtskarte. Sie zeigte ein Schiff auf dem sommerlich blauen Meer, eine alte weiße Fähre, bei deren Anblick ich augenblicklich an die Insel dachte, von der Juhls kamen.
    Doch weder Catinka noch ihre Mutter oder ihr Vater hatte die Karte geschrieben. Sie war von Lilith, und als ich ihre Unterschrift sah, drehte ich mit vor Kälte steifen Fingern die Karte noch mal um. Erst da fiel mir der Name am Bug des Schiffes auf: KITTY .
    Dieses Schiff, diese Fähre, hatte ich in Cherbourg nicht gesehen. Die Kitty war viel älter. Und trotzdem hatte fast die gesamte Crew, als sie von Bord ging,

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