Nie mehr Nacht (German Edition)
Gesicht standen.
»Ausgetrunken, deinen Tee? Dann adieu. Gutes Brückenmachen noch!«
Er starrte in den leeren Becher in seinen Händen, der einzige Abgrund, den er ermessen konnte.
»Du hast dich verändert«, sagte er tonlos, fast bekümmert, sodass ich zum ersten Mal den Jungen von früher in seiner Stimme hörte. Ich wollte nicht an ihn denken, atmete tief ein, schluckte ihn hinunter, und Kevins und Gordys Gesicht, unsere Rucksäcke und die Belgierin in dem Nachtzug verschwanden.
»Ich weiß nicht, wohin du da steuerst, aber ich kann mir vorstellen, dass es nicht leicht ist, alles über Bord spülen zu sehen und noch mal von vorn anzufangen.«
»Will ich das? Gut, das von dir zu erfahren«, sagte ich.
Und er sagte, es gebe ja wohl nur drei Möglichkeiten. »Entweder macht man weiter, oder man hört auf. Oder man orientiert sich um und fängt was Neues an. Wenn du eine vierte Möglichkeit entdeckt hast, sag mir Bescheid! Solange aber geh ich auf meinem nichtswürdigen beschränkten Weg weiter. Ich habe einen Jungen da draußen.«
»Wie meinst du das, einen Jungen?«
»Na und? Der wollte immerhin.«
»Du meinst, dein Sohn sitzt draußen im Auto?«
Kevin lächelte. Er sah zur Küchendecke und schüttelte den Kopf, wo nur noch dünne graue Strähnen waren, die den nackten Schädel kaum mehr verdeckten. Er war so alt wie ich, Ende vierzig, Familienvater, nie geschieden, so monogam wie ein Biber. Aus dem scheuen Besserwisser von früher war ein gestandener, erfolgreicher Mann geworden, ein Herr, Herr Kevin, Herr Brennicke, mein genaues Gegenteil.
Sein Lächeln war warm, schon immer war Kevins Lächeln besonders warm gewesen. Daran erkannte ich ihn, er war Kevin, trotz der herzkalten Natter, die er geheiratet hatte und bestimmt ganz anders kannte, und trotz des elenden Hochglanzmagazins, dessen elender künstlerischer Leiter er war. Nein, Noah saß nicht draußen und war mittlerweile halb erfroren. Seinen kleinen Sohn hatte er nicht mitgebracht, sondern einen jungen Zeichner. Gestern war er mit ihm in Souleuvre bei der Ruine des Eisenbahnviadukts gewesen, heute hatte er ihn an der Pegasusbrücke abgesetzt, und morgen wollten sie weiter zum Gui und an die Vire. Kevin und sein Zeichner hatten Zeit bis Ende der Woche. Dann mussten vier Brücken gemacht sein.
»Kenn ich ihn?«
»Nein. Wohl kaum.«
»Wieso nicht? Wer ist es?«
»Du kennst ihn nicht. Er ist noch jung, sehr jung, keine dreißig, keine fünfundzwanzig. Etwas fehlt ihm noch das Gespür der Hyäne. Aber woher soll er das auch haben?«
Er nahm Schal und Mantel. Es war ein guter Zeitpunkt, um sich davonzumachen, eine Hyäne witterte das.
»Wie sieht’s aus, alter Krieger, zeigst du deinem Nachfolger die Brücke am Gui? Ehrlich gesagt hab ich die heute stundenlang gesucht und nirgends gefunden. Wie ich dich kenne, warst du schon dreimal da und hast jeden Stein umgedreht.«
Ich würde es mir überlegen, sagte ich.
Und Kevin sagte plötzlich: »Iras Sohn geht’s gut. Jesse und sein Freund, dieser Niels, den du ja kennst, wollen nächstes Jahr Sprachferien in England machen. Sogar einen Job sucht er sich deswegen, sagte deine Mutter. Sie ist übrigens nicht gut auf dich zu sprechen, wirkt ziemlich bekümmert.«
Ich nickte bloß, sah hinaus in den weißen Hotelhof und stellte mir Jesse in England vor, wie er versuchte, in Bournemouth einen Arzt ausfindig zu machen, der mit Vornamen Mati hieß und sein Vater sein sollte.
Meine Attacken schienen Kevin nur munter gemacht zu haben. »Wir übernachten in einer Pension im Zentrum von Bayeux«, sagte er. »Nichts Besonderes, aber nicht schlecht. Was meinst du: morgen Mittag? Ich klingel dich raus. Und wenn du nicht aufmachst, fahren wir halt ohne dich. Komm schon!«
Sein Handy piepte. Er entschuldigte sich und zog das Gerät aus dem Mantel. »Dein Nachfolger!« Kevin wechselte ins Englische. Er ließ sich berichten. »Nach den Erfahrungen mit dir gehe ich auf Nummer sicher«, flüsterte er mir zu. Er lauschte, nickte, schien zufrieden. Der andere solle sich ein Taxi rufen, man treffe sich in der Pension, spätestens zum Frühstück. Morgen gehe es weiter, an die Vire und vielleicht auch zum Gui.
»Sag ihm, du holst ihn morgen Mittag ab«, flüsterte ich.
Handy am Ohr, sah mich Kevin fragend an.
»Du kannst doch hier schlafen. Ich habe fünfundvierzig Zimmer frei.«
Ich zeigte Kevin das L’Angleterre , die ganze abrissfertige Pracht des alten Kastens. Die Leere der Flure, die Höhe der Decken, die
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