Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nie mehr Nacht (German Edition)

Nie mehr Nacht (German Edition)

Titel: Nie mehr Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Bonné
Vom Netzwerk:
dem kleinen Nachbarland verband. Zuerst fiel mir mein Vater ein. Wenn er sagte, es gebe »Schuh der Brüsseler« zu essen, dann wussten wir, meine Mutter hatte Rosenkohl, Chou de Bruxelles, gekocht.
    Belgien wurde im Mai 1940 von Deutschland überfallen und binnen einer Woche besetzt. Im selben Jahr wurde mein Vater eingeschult. War das für seinen Enkel von Belang? Belgien war über Jahrhunderte zwischen Deutschen und Franzosen aufgerieben worden. Es lag mitten in Europa. Seine Hauptstadt war zugleich Sitz des Europäischen Rates und der Europäischen Kommission. Ich war nie in Brüssel gewesen.
    Zwei alte Brüsseler Landschaftsmaler liebte ich. Ich mochte das tiefe, leuchtende Grün der Bäume und Büsche auf den Bildern von Lucas Achtschellinck. Man sah die Lanzettspitzen zweier Sträucher, als streichelten sie einem übers Gesicht. Und in dem ganzen Grün war etwas Braunes, ein Fleck, dort schlief eine Drossel. Jacques d’Arthois dagegen bewunderte ich, weil er kaum etwas anderes gemalt hatte als den Wald von Soignes. Er hatte dort ein Haus gehabt. Heute war Soignes eine Brüsseler Vorstadt, und den Wald gab es nicht mehr.
    In Brügge war ich einmal zusammen mit meinen Eltern und Ira über hunderte Stufen den Glockenturm hinaufgestiegen, um hoch droben, weit über der Stadt, das frei stehende, tiefschwarze und wie lebendige Carillon des Belfrieds zu bestaunen. Bestimmt hätte es Jesse genauso gefallen, allerdings wohl kaum, wenn man den Glockenspielmechanismus bloß beschrieb.
    Und von Ira wollte ich ohnehin nichts, oder noch nichts, erzählen. Es war nur eine Frage der Zeit, dass sie den Jungen und mich mehr beschäftigen würde, als uns lieb sein konnte. Sie mochte Brel, der Belgier gewesen war. »Amsterdam« und »Il neige sur Liège« konnte sie mitsingen, ihr Lieblingschanson aber war Brels traurigstes. Wie in »Ne me quitte pas« einer darum bettelte, nicht verlassen zu werden, und dafür die ganze Schönheit der Welt in die Waagschale warf, das rührte sie zu Tränen, weil, wie sie sagte, das echte Stärke sei, allen Reichtum wegzugeben an jemanden, der nicht den Bruchteil davon verdiente. Wenn dann Jacques Brel diese treulose und obendrein mit der ganzen Welt beschenkte Geliebte anflehte, er wolle nur noch ein Schatten sein, und sei es der Schatten ihrer Hand, der Schatten ihres Hunds – dann konnte sie nicht anders und schluchzte. »Hörst du das? Wie selbstlos das ist?« Wenn wir uns meinen Katalog mit den Gemälden aus dem Wald von Soignes ansahen, hätten wir dort gern in einem Haus zusammengewohnt, wie Jacques d’Arthois eines gehabt hatte, und in die Nacht gelauscht. Jesse kannte weder Jacques d’Arthois noch Jacques Brel. Chansons waren in seinen Augen ausnahmslos was für Opas.
    Kaum war ich in Belgien, fiel mir ein, wie wir damals nach der Besichtigung des Brügger Belfrieds auf dem Platz vor der Kirche in einem Straßencafé saßen. Starr vor Entsetzen blickte mein Vater auf ein schmales Glas Bier, während meine Mutter stumm die Rechnung bezahlte. Umgerechnet fünfzehn Mark sollte das Bier kosten. Mein Vater trank keinen Schluck davon. Ausgeraubt fühlte er sich, verspottet, und erklärte sich solidarisch mit dem von den Belgiern vergewaltigten Kongo. Wie unter den Augen seiner Frau und seiner Kinder zu Stein geworden, wartete er, bis unsere Colas leer waren, und schnaubte dabei Verwünschungen auf König Baudouin und Königin Fabiola.
    »Ich bin mal mit zwei Freunden durch Belgien durchgefahren und hab in der Nacht damals ein echtes Abenteuer erlebt«, sagte ich. »Kann ich ja mal erzählen, falls es dich interessiert.«
    Komme drauf an, gab Jesse zurück. Abenteuergeschichten würden ihn meistens langweilen.
    Harry Potter und der magische Otter.
    »Na ja, ein Abenteuer war es für mich deshalb, weil ich nicht drauf gefasst war, in einem Zug durch Belgien mitten in der Nacht eine fremde Frau kennenzulernen«, sagte ich, »geschweige denn eine, die ich hübsch fand, oder sogar schön, und die um einiges erfahrener war als ich.«
    Er gab einen Laut von sich, der wohl skeptisches Staunen bekunden sollte. Langeweile und Neugier, Hinwendung und Abscheu, Überdruss und Gebanntsein. Alle Empfindungen schienen in ihm frei umherzuflottieren.
    Seiner Miene war dabei so wenig zu trauen wie dem, was er von sich gab. Wenn Jesses Gesicht Begeisterung ausdrückte, war er in Wahrheit vielleicht zutiefst irritiert. Oder umgekehrt. Oder er war beides gleichzeitig, begeistert irritiert, sehnsüchtig

Weitere Kostenlose Bücher