Nie mehr Nacht (German Edition)
angewidert, vor Neugier gelangweilt. Ich fragte mich, ob ich vor fünfundzwanzig oder dreißig Jahren in dem Nachtzug nach Mons einem ähnlichen Wirrwarr aus widerstreitenden Gefühlen ausgesetzt gewesen war. Vielleicht konnte ich mich deshalb an keine bestimmten Empfindungen erinnern. Wie alt bin ich gewesen?
Jesse fragte mich dasselbe. An das Gefühl, das man durch seine Kindheit und Jugend mit sich herumschleppte wie einen verhassten Ranzen, erinnerte ich mich nur zu gut. Alles drehte sich darum, wie alt man war.
»Sechzehn«, sagte ich, obwohl ich mir nicht sicher war. Ich hielt es für besser, auch damals älter gewesen zu sein als er.
»Und deine Freunde?«
»Wir waren ungefähr gleich alt. Und Freunde … vielleicht waren wir auch nur Klassenkameraden.«
Ich erzählte Jesse, dass einer der beiden auch heute noch ein guter Bekannter von mir war und dass wir ohne ihn jetzt nicht in die Normandie fahren würden. Für Kevin, für das Magazin, bei dem er arbeitete, solle ich die Brücken zeichnen. Aber damals, wie gesagt, sei er sechzehn gewesen, wie ich und wie der andere Junge aus der Klasse, Gordian, zu dem wir Gordy sagten, weil keiner seinen Namen mochte, er selber am wenigsten.
»Gordy, Kevin und Marky Mark in Belgien – sehr spannend!« Jesse amüsierte sich, zumindest hatte es den Anschein. Ich fragte mich, wie er sein Phlegma so schnell abschüttelte. »Und diese Frau?«
»Zu der komm ich gleich, wart’s ab. Durch Belgien sind wir bloß durchgefahren, so wie wir jetzt. Wir waren auf dem Weg ans Meer, an die französische Atlantikküste. In der Nähe von Arcachon gab es einen großen Campingplatz, auf dem mehrere Mädchen aus unserer Klasse mit ihren Eltern die Ferien verbrachten, da wollten wir hin. Eigentlich hatten wir trampen wollen, per Anhalter fahren – eine Fortbewegungsart aus dem letzten Jahrhundert.«
»Ganz spontan, ne«, höhnte Jesse. »Echt dufte Hippies, ne.«
»Nicht wirklich. Wir schleppten Zelte, Kocher, Schlafsäcke, Isomatten und sogar einen Verbandskasten quer durch Europa. Jeder hatte einen Riesenrucksack. Meiner war voller Konservendosen. Wir waren spontan und superflexibel, weil wir ein mobiles Ravioli-Einsatzkommando waren. Pech, dass wir keinen Dosenöffner hatten. Wir hatten nur Kevins Schweizer Taschenmesser, mit dem er sich auch die Fußnägel schnitt.«
»Und ihr habt gekifft.«
»Quatsch«, sagte ich. »Wir waren sechzehn.«
Natürlich hatten wir gekifft, roten Afghanen. Und die Asche eines Joints hatten wir uns manchmal unter die Augen gerieben, damit wir so gespenstisch aussahen, wie wir uns fühlten.
»Und ihr habt getrunken.«
»Nein, auch nicht.«
Natürlich hatten wir getrunken, Wein, Bier, alles, was wir in die Finger bekamen, sogar Eierlikör, wenn nichts anderes da war. Gordy soff am meisten und vertrug am wenigsten. Alkohol machte ihn so fies und ordinär, dass man den Eindruck nicht loswurde, ein spießiges Rumpelstilzchen rückte einem auf den Leib. Kevin und mich beschimpfte er gern als schwule Spastiker, und das war keine seiner unflätigen Beleidigungen. Dabei war Gordian Rogalla ein echter Sonnyboy, wie meine Mutter gesagt hätte. Hochaufgeschossen und blond, mit ansteckendem breiten Grinsen, so drückte einen der Junge aus der Wasserball- AG an die Brust. In seinem vernarbten Innern aber lauerten der Jähzorn und die Lust zu quälen, und lauter geplatzte Äderchen in seinen Augen kündigten es an, wenn sich Gordy ab der zweiten Flasche Bier in einen weißzahnig lächelnden Sadisten verwandelte.
»Wegen unserer Rucksäcke waren wir jedenfalls so gut wie transportunfähig. Kaum einer nahm uns mit, es war einfach nicht genug Platz in den Autos«, erzählte ich weiter. »Wir brauchten drei Tage, um von Hamburg nach Köln zu kommen. Wir schliefen unter Autobahnbrücken. Tagsüber war es heiß, aber nachts kroch die Kälte zu einem in den Schlafsack. Wir beschlossen, uns entweder zu trennen oder wenigstens bis Paris den Zug zu nehmen. Und weil uns auch in Köln keiner mitnahm, haben wir das schließlich gemacht.«
Zu sehen, wie Jesse meiner Erzählung folgte, freute mich. Außer seiner Mutter hatte ich die Geschichte noch niemandem erzählt – warum nicht? Sogar mit Kevin, der dabei gewesen war, hatte ich nie wieder darüber geredet. Wieso erzählte ich jetzt dem Jungen davon? Vielleicht, weil er etwa so alt war wie wir damals. Die Bahnstrecke nach Paris verlief nicht in Autobahnnähe, sondern weiter südlich durch Belgien, und doch dachte
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