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Nie mehr Nacht (German Edition)

Nie mehr Nacht (German Edition)

Titel: Nie mehr Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Bonné
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oft unerklärlich zorniges Energiebündel, das ihrem Bruder manchmal furchtbar auf die Nerven ging. Jesse und Cat verband eine seltsame Zuneigung. Sie liebte ihn ganz unverhohlen und zeigte ihm das mit rührenden Geschenken und Gesten. Jesse ließ nichts auf sie kommen, verteidigte sie sogar vor Niels und sagte offen zu jedem, der die Kleine belächelte, wie großartig er Catinka fand.
    Ich wusste sehr wohl, dass Kleinreden und Verschweigen genauso zur Abwartetaktik gehörten wie das Spiel mit Beschützergesten. Angenommen, damals in dem Nachtzug nach Mons war auch ich fünfzehn, so war ich nach einer Reihe kurzer verwirrender Liebeleien mit Mädchen aus meiner Klasse erst recht zum Platzen angefüllt von Lust, die einem stummen, nicht endenden Schrei glich. Nur dass es Ira ähnlich erging, machte es halbwegs erträglich. Manchmal brach sich der Lustschrei in irrem Gelächter Bahn, derben Scherzen mit Kevin oder Scharmützeln mit Gordy. Wir wussten weder, woher dieser gellende Tinnitus in uns kam, noch wohin wir damit sollten. Der Lust freien Lauf zu lassen, sie herauszubrüllen, verbot sich, ob im Unterricht, auf der Straße, im Bus oder beim Abendbrot. Im Grunde war es ein Drang, der nicht von dieser Welt sein konnte, da es sich überall verbot, ihm nachzugeben. Ich fühlte mich stumm, obwohl ich doch sprechen konnte, und so blieb es bis zu jener Nacht in Belgien.
    »Und dann?« Mit großen grünen Augen sah Jesse mich an. »Ich meine … bitte! Ich glaub, ich wär rausgelaufen. Ich hätte mich draußen in den Korridor verkrochen.«
    Er konnte sich nicht vorstellen, wie ich mich gefühlt hatte – oder er konnte es sich nur zu gut vorstellen.
    »Mich verkriechen – ob ich das irgendwann vorhatte, weiß ich nicht mehr. Es ist lange her«, sagte ich. »Aber dann war’s auch schon zu spät. Dann passierte es nämlich.«
    »Oha! Und was?«
    »Sie redete mit mir.«
    »Die Frau.«
    »Genau. Sie drehte sich um und fragte mich, ob ich gar nicht müde sei.«
    »Auf Flämisch. Oder wie?«
    »Englisch. Und ich sagte, doch, ich sei todmüde. Dann fragte sie mich, wohin wir wollten, woher wir kämen, wie alt ich sei.«
    »Und was hast du gesagt? Du hast gelogen, oder?«
    »Ich glaub nicht. Sie war selber todmüde. Und ich hielt sie vom Schlafen ab. Sie hatte eine ganz müde Stimme, das weiß ich noch. Sie tat mir leid. Und ich tat wahrscheinlich ihr leid. Na ja, und dann stellte sie die Handtasche auf den Boden und sagte, ich solle meinen Kopf auf ihren Schoß legen.«
    »Und hast du?«
    »Was hättest du gemacht?«
    »Ich glaub, ich wär in Flammen aufgegangen. Spontaneous self-combustion.« Er presste sich die Hände vors Gesicht und rieb sich etwas aus den Augenhöhlen, das gar nicht da war.
    »Ich hab’s jedenfalls gemacht«, sagte ich. »Es war – tja, wie soll ich sagen …«
    »Krass.«
    »Ja, das auch. Es war krass. Das Beste, was mir passieren konnte. Und einer der rätselhaftesten Momente, an die ich mich überhaupt erinnere. Ein Augenblick, in dem das Blatt sich wendet, wie man so sagt. Schon komisch: Es war nicht weit von hier.«
    Irgendwann hatten Ira und ich uns ein Porträt im Fernsehen angesehen: Der vom Krebs gezeichnete Brel zeigte einem Kamerateam seine liebsten Orte in Belgien. An einem Zaun lehnend sagte Brel, es sei ein Irrtum, die Kindheit für einen Zeitabschnitt zu halten. Die Kindheit sei ein Ort.
    Inzwischen lag Namur hinter uns. Auf der Autoroute de Wallonie fuhren wir auf Charleroi zu, und die nächste größere Stadt, die letzte belgische vor der Grenze, würde Mons sein. Keine Stunde mehr, und wir waren in Frankreich.
    Eigentlich wollte ich nur nicht über Ira sprechen, deshalb redete ich weiter. Und weil Jesse wissen wollte, was weiter passiert war, erzählte ich es ihm, auch wenn ich mich vielleicht lächerlich machte. Ich erzählte von dem weißen Lederrock und dem weißen Seidenschal, mit dem meine Finger spielten, während mein Kopf auf dem fremden Schoß lag. Der Rock roch wie eine Tierhaut.
    Ich wollte Jesse deutlich machen, woher mein Mut kam, die Frau zu streicheln. Begierde und Begehren seien nicht dasselbe, sagte ich. Aber er glaubte mir nicht, und ich beließ es dabei, weil ich es im Grunde selber nicht glaubte. Nur war es so passiert. Sogar die Strumpfhose meinte ich noch an den Fingerkuppen zu spüren.
    »Do not do that«, flüsterte sie mit starkem Akzent und schob meine Hand zurück. Aber sie nahm sie nicht ganz weg, und so ging es von neuem los, während mal sie einnickte

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