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Nie mehr Nacht (German Edition)

Nie mehr Nacht (German Edition)

Titel: Nie mehr Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Bonné
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ich öfter, dass es hier irgendwo passiert war.
    Von Köln nahmen wir den Nachtzug zum Gare de l’Est. Der Zug fuhr kurz vor Mitternacht, die Schlafwagen waren ausgebucht. Aber auch in den Abteilen und Gängen – Großraumwagen gab es noch nicht – drängten sich Reisende. Gordy und ich schickten unseren dritten Mann als Späher los, blieben bei unserem Gepäck im Gang stehen und ließen die Leute sich an uns vorbeizwängen. Es dauerte geraume Zeit, bis Kevin zurückkam und ein Abteil gefunden hatte. Dort seien nur drei Plätze besetzt, schnaufte er, und auch die Rucksäcke würden wir unterbringen können. Allerdings seien alle in dem Abteil Franzosen und schliefen schon fast.
    Und wirklich war das Abteil dunkel, als wir es in einem der letzten Waggons endlich fanden. Die Füße des einen am Kopf des anderen, lagen zwei junge Typen quer auf den Sitzbänken und zur Hälfte auf Koffern und Taschen, die sie auf dem Boden gestapelt hatten. Am Fenster saß eine Frau. Sie hatte rotbraunes Haar und trug ein weißes Lederkostüm, schläfrig nahm sie die Handtasche vom Sitz gegenüber und schlüpfte, ohne hinzusehen, in ein Paar Schuhe mit hohen Korkabsätzen.
    Der Zug bewegte sich auf die Grenze zu, und weil wir wussten, dass uns dort Passkontrollen erwarteten und es noch Lichtjahre dauern sollte bis zum Schengener Abkommen, beschlossen wir, uns erst in Belgien hinzulegen. Ohne die beiden Schlafenden zu wecken, verstauten wir die Rucksäcke in den Gepäckfächern oder unter den Bänken und teilten dann die Plätze auf. Kevin setzte sich an die Tür, wo er sich sofort lang machte, Gordian bestand auf den Sitz vis-à-vis der Frau, um sie von dort aus in Augenschein nehmen zu können, und ich zwängte mich neben sie. So warteten wir auf die Grenzer. Ab und zu hörte ich Gordy eine geflüsterte Zote durch das Dreivierteldunkel schicken.
    »Oha!«, rief Jesse aus, wenn ihn etwas verblüffte, das ihm zugleich peinlich war. »Oha! Und diese fremde Frau, diese Französin, die hast du dann echt kennengelernt? Hast du sie angesprochen, oder was hast du gemacht?«
    »Es war abenteuerlich«, sagte ich, »wirklich, wirklich abenteuerlich. Ich habe nämlich überhaupt nichts gemacht – jedenfalls nicht zuerst. Ich saß einfach da, erstarrt, betäubt von ihrem Duft. Sie roch unfassbar gut. Und dann, als das Licht anging, weil die Passkontrolle unser Abteil erreichte, sah ich sie im Hellen. Eine erwachsene Frau. Ziemlich stark geschminkt war sie und bestimmt fünfzehn Jahre älter als ich, wenn nicht schon Mitte dreißig. Und sie war nicht etwa Französin, wie Kevin gemeint hatte, sondern Belgierin.«
    Woher ich das wisse, fragte Jesse, und ich sagte es ihm.
    »Sie bat mich, ihren Pass dem Grenzbeamten zu geben. Tat ich. Dann ging das Licht wieder aus. Und jetzt kommt, was ich von Belgien halte.«

8
    N icht in allen Einzelheiten und doch ziemlich ausführlich erzählte ich Jesse von der Nacht in dem Abteil mit zwei schlafenden jungen Franzosen, meinen zwei Freunden oder Schulkameraden, die anfingen, um die Wette zu schnarchen, sobald das Licht ausgegangen war, und einer duftenden Belgierin neben mir, die, den Kopf an die Wand gelehnt, bald ebenso eingeschlummert zu sein schien wie alle anderen außer mir.
    Es war dunkel. Und es war eng. Links lag der Kopf oder lagen die Füße eines Franzosen. Rechts saß die Frau. Unsere Hüften und Beine berührten sich. Ich erzählte Jesse, dass mich das ungefähr so zappelig machte, wie er es gerade war. An Schlaf war gar nicht zu denken. Ich fühlte mich eingekerkert in einem wohlriechenden und behaglichen Verlies, das in tiefer Nacht durch ein fremdes Land gefahren wurde.
    Ich erzählte jedoch nicht, was in mir – und an mir – vonstatten gegangen war. Ich erinnerte mich noch gut an den kleinen Jungen, der sich als Zweijähriger den Unterkörper mit Karottenbrei eingeschmiert hatte. Als Jesse vier gewesen war, hatte ich ihm gezeigt, wie man im Stehen pinkelte. Von seinem inzwischen bestimmt erwachten Geschlechtsleben hatte ich eine vage Vorstellung und konnte auf tiefere Einblicke gut verzichten. Wie weit er mittlerweile war, ob er verliebt war, Liebeskummer hatte oder eine feste Freundin, wusste ich nicht. Meine Mutter, äußerst wachsam in Herzensdingen, hatte bislang kein Mädchen erwähnt, und auch Jesse redete so gut wie nie von seinen Klassenkameradinnen oder den Freundinnen von Niels’ ein Jahr älterer Schwester Margo. Catinka, die jüngere Schwester, war neun und ein kleines,

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