Nie mehr Nacht (German Edition)
ihrem wie meinem, und auch in den Köpfen unserer Eltern keine andere Vorstellung als die von einem Ende.
Wenn es stimmte, dass die Welt sich durch Zufälle äußerte, konnten meine Eltern und ich wohl behaupten, dass wir der Welt zugehört und ihren Weisungen zu folgen versucht hatten. Denn es war nichts als bloßer Zufall, dass Jesse mit mir in meinem alten Mercedes saß, um für acht Tage in die Normandie zu fahren.
Doch waren wir deshalb nicht auf alles gefasst. Als Überbleibsel einer Familie von Pragmatikern waren wir vielleicht auf alles Mögliche vorbereitet. Für Ira allerdings, die auf gar nichts vorbereitet war und nichts mehr für möglich hielt, hätte das einen elementaren Unterschied bedeutet.
Für ihren Sohn dagegen war unsere Reise bloß Schicksal.
Jesse war seit ein paar Monaten fünfzehn. Den Rucksack zwischen seinen Knien hatte ich ihm zum Geburtstag geschenkt. Früher war er eher klein gewesen, ein kleiner, lebendiger Junge mit einem, wie es immer hieß, sonnigen Gemüt. In den letzten zwei Jahren war er mächtig in die Höhe geschossen. Jetzt war er beinahe so groß wie sein Großvater und ich. Hager und schlaksig war er, dabei von zäher Ausdauer und ziemlicher Kraft. Seit geraumer Zeit hatte er eine Bannmeile für Friseurinnen um sich gezogen. Schon als er zwölf war, hatte Ira darüber geklagt, dass ihr Sohn keinen Wert auf sein Äußeres lege. Bevor sie ihrer Menschenscheu nicht mehr Herr wurde und den Halbtagsjob beim Spracheninstitut verlor, kam ab und zu eine Kollegin zu Besuch und überließ ihr Klamotten, aus denen ein größerer Sohn herausgewachsen war und die Jesse dann auftrug. Zwar wirkte er dadurch immer etwas älter, als er war, dafür stand er in der Hackordnung seiner Altersgenossen aber ziemlich weit unten.
Jetzt hatte er ein Outfit. Der neue Rucksack war nötig gewesen, weil der Vorgänger sich auflöste, so lange war ihm Jesse mit Duftspray auf den Leib gerückt. Gut zu riechen war ihm ebenso wichtig wie gut angezogen zu sein. Er trug das Zeug, das fast alle Jungen in seinem Alter anhatten, Kapuzenjacke, Sweatshirt, sackartig fast in den Kniekehlen hängende Jeans, dazu ein markant gemustertes Halstuch, das Bandana genannt wurde, und Turnschuhstiefel, die heute High-tops hießen und ohne Firlefanz zu sein hatten. Eine Kappe mit dem Emblem der New York Yankees, die jahrelang sein Erkennungsmerkmal gewesen war, trugen jetzt alle, die jünger waren und glaubten, die Yankees spielten Football. Nein, keine Baseball-Kappe mehr. Seit er lange Haare hatte, trug er nichts mehr auf dem Kopf.
Seine Haare waren Jesse nicht nur wichtig. Sie bedeuteten. Nicht nur seine Persönlichkeit drückten sie aus, sondern eine Verbindung, wenn nicht Verbindlichkeit. Es war nicht einfach, mit ihm darüber zu sprechen. Wahrscheinlich hätte er von Schicksal geredet. Jesses Haare bedeuteten, aber was sie bedeuteten, blieb dem Zufall überlassen, kraft dessen sie ohne Schnitt, ohne Frisur oder »Fasson«, wie seine Oma es nannte, im Grunde nur eins taten, nämlich länger werden. Sie machten, was sie wollten. Und was sie wollten, war wachsen. Sie waren frei. Blond, glatt, fast schulterlang, bestätigten Jesses Haare die Ansicht seiner Mutter vom Zufall als Sprache der Welt, auch wenn Jesse diese Begriffe allesamt für fragwürdig hielt. Absolut unfragwürdig war hingegen das Schicksal, denn es war eine Fügung, jung zu sein und wachsen zu müssen.
Während ich den Wagen durch den vormittäglichen Berufsverkehr von Lokstedt und Stellingen in Richtung Elbtunnel lenkte, redeten wir nicht viel. Jesse war verschlafen. Nach den vierzehn Stunden, die er üblicherweise schlief, war er noch müde, vielleicht auch vergrätzt, es war schwer auszumachen, da er den Kopf ans Seitenfenster gelegt hatte und ihm die Haare ins Gesicht fielen. Ich fragte ihn, wie es um seinen Hunger bestellt sei, und er schüttelte den Kopf. Gefrühstückt hatte er nicht. Allerdings frühstückte er so gut wie nie. Auch Musik hören wollte er nicht, und sich unterhalten offenbar noch weniger. Am Frühstückstisch hatte mich meine Mutter daran erinnert, dass der Junge seine Zeit brauchte, bis er bei Sinnen und ansprechbar war.
Nein, er schlief nicht. Ab und zu rieb er sich etwas aus dem Gesicht. Dann strich er die Haare beiseite, und ich sah seine Lider halb offen stehen, darunter aber einen leeren und so gelangweilten Blick, dass es mir grauste. Dann wieder amüsierte er sich, nicht ersichtlich, worüber, mit einem Lächeln, das
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