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Nie mehr Nacht (German Edition)

Nie mehr Nacht (German Edition)

Titel: Nie mehr Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Bonné
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gedrückt, der aussah wie ein Blatt und auf dem nur ein Satz stand: »Der Zug ist abgefahren.«
    »Hätten Sie Lust, sich etwas Geld zu verdienen? Hundert Euro in zehn Minuten?«
    »Machen Sie mir ein unmoralisches Angebot?«
    »Nein. Oder doch? In gewisser Weise.«
    »Für Liebesdinge ist mein Prinz zuständig.«
    »Es geht um ein Gespräch, ich brauche einen Dolmetscher. Und Sie sprechen Deutsch.«
    »Meine Mutter ist Deutsche. Worum geht’s denn?«
    Ich versuchte es ihr zu erklären. Ich erzählte von Ira, meiner toten Schwester. Ich sagte: »Es wird kein einfaches Gespräch.«
    Polizei?
    Ich schüttelte den Kopf.
    Ärzte?
    Auch nicht. Ich schüttelte den Kopf und sah vorm Fenster eine schmale Gasse auftauchen; inmitten einer Menschentraube stand dort ein Notarztwagen mit rotierendem Blaulicht.
    Aber schon war alles wieder verschwunden, ausgelöscht, als hätte ich es bloß geträumt.
    »Da hat’s jemanden erwischt.« Annik klappte ihre Chromwimpern auf. »Also was für ein Gespräch soll ich dolmetschen? Es geht um Geld, ja?«
    Ich erzählte von dem Foto und wo ich es gesehen hatte. Iras Tod tat ihr leid, die hundert Euro wollte sie auf keinen Fall. Sie würde mich begleiten, sie wollte sowieso was besorgen. Als wir geparkt hatten, lachte sie über das schwarze Autodach hin: »Gut möglich, dass ich die Verkäuferin, die Sie suchen, kenne. Sie heißt Séverine. Ich bin mir sicher!«

2
    S éverine hieß mit Nachnamen Laudec und war unverkennbar die blonde Frau, die auf dem Strandfoto Wange an Wange mit meiner Schwester zu sehen war. Madame Laudec nahm das Foto in die Hand, als sie Annik und mich in einem kleinen weißen Zimmer in der Nähe der Rolltreppe begrüßte. Sie sah genauso aus wie auf dem Bild, war nur nicht gebräunt und alles andere als gelöst. Eine schöne freie Woche schien sie nicht gehabt zu haben. Aber sie war am Leben, anders als die Frau neben ihr auf dem Bild. Und wie sie das Foto so betrachtete, musste auch ihr dämmern, wie nah sie an jenem Sommertag an irgendeinem Meer dem Tod gekommen war.
    Annik erklärte ihrer Bekannten mein Anliegen. Die Verkäuferin blickte dabei zu Boden, und ich hatte Gelegenheit, sie mir genauer anzusehen, ohne sie damit zu verunsichern. Sie hatte starkes Untergewicht und dünnes strähniges Haar, außerdem auffallend zierliche Hände, die sie aber nicht pflegte. Annik dolmetschte, dass ich um drei Auskünfte bat: Wie gut hatte sie Ira gekannt? Wo und wann war das Foto entstanden? Wer hatte es gemacht?
    Séverine Laudec legte die Fotografie auf einen Stapel Inventurklemmordner, der auf einem Tischchen lag, hinter das sie sich geflüchtet hatte. Sie sah abgekämpft aus, obwohl es erst Mittag war. Ich fragte mich, was ihr fehlte, während sie aus der Kitteltasche ein Haargummi hervorfingerte und sich mit kurzen, nervösen Bewegungen einen Pferdeschwanz band. Sie war mindestens fünfzehn Jahre älter als Annik, offenbar kannten sich die beiden nur flüchtig. Mit überraschend tiefer Stimme erzählte Madame Laudec, was sie von dem Foto wusste, dabei duzte sie Annik, obwohl diese sie gesiezt hatte.
    Wortlos hörten wir ihr zu. Sie ließ das Ganze nicht an sich heran; selbst mir, der ich kaum ein Wort verstand, fiel auf, wie bemüht sie war, sich ihren Kummer nicht anmerken zu lassen. »Je n’ sais plus«, sagte sie zum Schluss fast schrill, zuckte dabei empört mit den Achseln und griff dann trotzig noch mal zu dem Foto.
    Ich mochte sie. Kurz fragte ich mich sogar, ob sie vielleicht deshalb so bekümmert war, weil auch sie Iras Tod nicht verwinden konnte. Doch auch so mochte ich den müden Trotz in ihren Augen, ihr verhärmtes Rebellieren, mochte, wie sie sich gegen die Verzweiflung stemmte, und konnte mir Ira an ihrer Seite gut vorstellen. Gemeinsam waren sie bestimmt stark gewesen und hatten, wie auf dem Foto, eine schöne Zeit miteinander verbracht.
    Annik drehte sich zu mir. Sie sah mich an, und ich sah ihr zum ersten Mal offen in ihre seltsam silbernen Augen. Dann sagte sie ruhig, dabei warm und alles andere als förmlich: »Séverine meint, dass Sie sich irren. Es tut ihr leid. Die Frau auf dem Foto kann nicht Ihre Schwester sein. Sie spricht zwar deutsch, aber sie ist keine Deutsche, sondern Elsässerin. Sie heißt nicht Ira, und sie ist auch nicht tot. Sie ist am Leben, zumindest war sie es noch letzte Woche. Sie arbeitet in Cherbourg, in einem Fährbüro. Das Foto ist von letztem Sommer. Es wurde auf Korsika gemacht, im Urlaub, von ihrem Mann.«
    »Sie ist

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