Nie mehr Nacht (German Edition)
Division-Tage. Wie alt sind Sie?«
»Zweiunddreißig. Ich wurde in dem Frühling geboren, als sich Ian Curtis umgebracht hat. Für mich ist jeder Tag ein Joy Division-Tag. Schon meine Mama hat sie gehört und mir den Namen von Ian Curtis’ belgischer Freundin gegeben. Ich höre die Musik jetzt seit acht Jahren fast jeden Tag. Seit ich bei den Flauberts arbeite!«
Aus dunkler Kehle lachte sie, und mir fiel wieder ein, was Jesse gesagt hatte: »Belgien bringt nur Unglück in die Welt.«
»Irgendwie passt die Musik zu einem Schrottplatz«, sagte Annik.
»Dem Schrottplatz der Erinnerungen vielleicht.«
»Oui! Und ich arbeite bei der Freudenabteilung. Wissen Sie, warum die Band sich so nannte?«
Ich hatte von den KZ -Bordellen der Nazis gelesen. Annik sagte, so eine Freudenabteilung habe es auch in einem Hamburger Konzentrationslager gegeben.
»Neuengamme«, sagte sie nach einer Pause.
Und ich: »Mir schlägt schon der Name aufs Gemüt.«
Sie drehte die Musik lauter. »Was wollen Sie jetzt machen? Sie wirken … ziemlich erledigt.«
»Ich habe Ihrem Chef versprochen, ein bisschen auf das Hotel aufzupassen, das war Teil des Deals. Mir gibt das Zeit. Diese Lilith kennen Sie nicht?«
»Nein, nie begegnet.« Sie zog die Mundwinkel nach unten. »Aber es dürfte nicht schwer sein, sie zu finden. Sie wollen sie suchen?«
Ich wusste es nicht. War es das, was ich wollte – einer Frau begegnen, die wie Ira aussah, mich vielleicht sogar mit ihr unterhalten? Wozu? Was dann? Seltsam, dass dieser Séverine nicht aufgefallen war, wie ähnlich ich ihrer Freundin sah und was für einen großen Zufall das alles ergab. Aber vielleicht war es ihr ja aufgefallen, und deswegen war sie so verstört. Oder sie hatte es nur deshalb nicht bemerkt, weil sie ihre Freundin ganz anders kannte. Vielleicht sah Lilith überhaupt nicht aus wie Ira, vielleicht ähnelte sie ihr nur entfernt, in bestimmten Momenten, und so einer war an dem korsischen Strand gewesen.
Das kann doch alles gar nicht sein, dachte ich. Mit einem Ohr hörte ich, was Annik von ihrem Freund erzählte. Sie redete wie ein Wasserfall, allmählich ging sie mir auf die Nerven. Ich unterdrückte das Gefühl, versuchte ihr zuzuhören, aber dachte immer wieder: Das ist doch alles gar nicht möglich. Annik erzählte, dass ihr Freund Serge hieß und dass er verheiratet war. Er hatte eine Frau und zwei kleine Kinder und lebte mit seiner Familie in Carentan, auf halbem Weg nach Cherbourg. Sie sah ihn alle zwei Wochen, für einen Nachmittag, einen Abend, über Nacht so gut wie nie. Sobald er nach Bayeux kam, wechselte Serge den Wagen, dann nahm er den BMW . In Carentan trug er Kontaktlinsen, bei ihr nahm er sie raus und setzte sich eine alte Brille auf, die ihn viel älter machte. Annik und er fuhren herum, wenn sie zusammen waren, an wenig besuchte Orte, sie gingen viel spazieren, gondelten durch die Gegend, sie waren immer allein. Glücklich machte sie das nicht, aber ab und zu fröhlich, und das war nicht wenig.
»Oder finden Sie mich nicht fröhlich?«
Doch, ich fand sie fröhlich. »Bewundernswert fröhlich sogar«, sagte ich. »Wissen Sie, ob Séverine Kinder hat?«
Ich erkannte den Heckenweg, die letzten großen Bäume am Straßenrand. In Meernähe wuchsen nur Krüppelkiefern. Kurz darauf kam Le Mesnil in Sicht, und rechts, in den Dünen, die meisten Möwen waren dort in der Luft, stand das L’Angleterre , wo Juhls seit dem frühen Morgen aufräumten und packten.
»Sév und Henri haben eine Tochter, leider ist sie krank, sehr krank. – Sie tun alles, um mir meine Laune zu verfinstern, richtig?« Sie lachte, und Séverine Laudecs kranke Tochter und die Ehefrau und Kinder von Anniks Freund Serge verschwanden in dem Lachen. »Und Sie, haben Sie Kinder?«
»Ich bin mit dem Sohn meiner Schwester hier. Jesse heißt er. Heute fährt er wieder nach Hause.«
»Ich hab von den zwei Jungs gehört. Hübsche Burschen … sagt Monsieur Flaubert.«
Annik bog in den Kiesweg ein. Die Luft war erfüllt vom Lärmen des Abschiedskomitees für Ove Juhl: Hunderte Möwen kreisten über dem alten Strandhotel. Ihr Geschrei klang wie die rückwärtslaufenden Tonbandschleifen bei »Tomorrow never knows« von den Beatles.
»Soll ich für Sie rauskriegen, wie diese Lilith mit Nachnamen heißt und bei welchem Fährbüro sie arbeitet? Ich könnte Ihnen mailen oder simsen.«
»Da werden Sie kein Glück haben«, erwiderte ich erst, als wir vorm Tor hielten. Ich stieg aus und dankte ihr,
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