Nie mehr Nacht (German Edition)
verschränkten und überkreuz einhersegelnden Formationen, die man schon von Weitem rufen hörte. Es waren viele Jungtiere darunter, erklärte mir Ove, an sie richteten sich die Rufe der Älteren.
»Die sehen aus wie Mandschurenkraniche«, sagte ich.
Ove sagte nichts. Er stand auf, und ich folgte ihm über die der Kolonie abgewandte Seite des Dünenkamms, wo die Wächtervögel uns nicht sehen konnten. Erst als wir einen neuen Platz gefunden hatten, gab er mir das Fernglas und forderte mich auf durchzugucken.
»Die sehen aus wie Mandschurenkraniche, sind aber keine«, sagte er. »Sind alle Graukraniche, mit etwas röterem Kamm. Die aus Schweden kommen haben den öfter. Bilde ich mir so ein.«
Ich fragte ihn, wie man sich sicher sein könne, dass nicht ein paar Mandschurenkraniche dabei seien, und Ove erklärte mir auch das: Mandschurenkraniche – Asien. Graukraniche – Europa. Ausnahmen: so gut wie keine. Mandschurenkraniche lebten in Europa in Zoos. Alle frei fliegenden waren Graukraniche, Grus grus.
In dem Süßwassermoor südlich der großen Düne staksten hunderte, und die meisten trompeteten.
»Es fällt dir schwer, einzusehen, dass sie alle von derselben Art zu sein haben, was?« Er griff mir in den Nacken, drückte zu und lachte.
Ich fragte mich, wieso sich Ira als großen grauen Zugvogel bezeichnet und ob sie damit wohl einen Kranich gemeint hatte.
»Wer bestimmt eigentlich, dass es in Europa nur Graukraniche gibt?«, fragte ich Ove und kam mir wie ein trotziger Teenager vor.
»Woher weißt du, dass du nicht gerade durch Tokio läufst? Ihre Flugrouten liegen zigtausende Kilometer voneinander entfernt. Sie verlassen sie nicht, leider sind sie da stur«, sagte Ove. »Sie kommen schon immer hierher, so wie die Mandschuren- und Schneekraniche von Sibirien nach China und Japan.«
»Du hast mich gefragt, wieso ich aufgehört habe zu malen. Warum hast du aufgehört, über Vögel zu schreiben?«
»Weil man nicht mehr sieht, was man beschreibt. Jan Ove Juhl, willst du erblinden? Das fragte ich mich. Es geht nur noch um Darstellungen und Beschreibungen. Wenn du aber immer das Gleiche sehen willst, so wie ich mich nun mal von diesen dürren Froschfressern nicht losreißen kann, musst du dich entscheiden. Ich hab mich für stures, nichtsnutziges Beobachten entschieden, mange tak. Analyse und Aufklärung, Übermittlung und Überlieferung, von mir aus. Aber ohne mich. Gerade haben sie in Amerika herausgefunden, dass die Laubenvögel Früchte danach aussuchen, ob sich damit ein Ziergarten anlegen lässt. Hast du schon mal von Laubenvögeln gehört? Nur der Mensch und der Laubenvogel legen Ziergärten an auf der Welt … wie klingt das für dich?«
»Plump.«
»Da drüben«, flüsterte er mit seiner Mischung aus düsterer Unruhe und hoffnungsvoller Erwartung, »da fangen zwei an zu tanzen, guck hin! Bei Mandschuren sieht das ganz anders aus. Auf Hokkaido haben Britta und ich geheult, als wir sie sahen, so schön waren sie. Heute bin ich schon froh, wenn sie mir noch auffallen.«
Er sagte Britta zu seiner Frau, weil auf der Insel im Kattegatt, von der sie kamen, sie jeder so nannte. Er kannte Maybritt seit 1966, und ich fragte mich, wie es ihm wohl erginge, wäre sie verschwunden, wie Ira es war.
»Ich werde versuchen hierzubleiben, vielleicht sogar den ganzen Winter«, schrieb ich Kevin Brennicke. »Tut mir leid, aber die Brücken kann ich nicht zeichnen, sehe mich absolutement nicht dazu in der Lage. Bitte gib den Auftrag einem anderen. Solltest Du Unkosten deswegen haben, wird Saskia sie begleichen. Ich maile ihr. Alles Gute für Deine Familie, herzlich und mit besten Wünschen für Eure D-Day-Ausgabe.«
Danach schrieb ich meiner früheren Frau und jetzt auch ehemaligen Nachbarin. Ich bat Saskia, einen Makler mit der Neuvermietung des Studios zu beauftragen. »Nimm Dir von meinen Sachen, was Du gebrauchen kannst, und gib den Rest bitte zur Haushaltsauflösung. Von dem, was du rauskriegst, überweis mir die Hälfte. Wenn überhaupt, komme ich erst nächstes Jahr zurück. Ab sofort bin ich offline und auch anders nicht zu erreichen. Es geht mir gut, ich hoffe, Dir auch.«
Einmal, als ich abends in die Küche kam, küssten sich Maybritt und Ove, und Cat stöhnte laut vor peinlicher Berührtheit.
»Wenn du geküsst werden willst, such dir jemand anderen«, sagte sie zu ihrer Schnecke L’Orgueilleuse.
Ich fragte Jesse, der im Bad stand und dort nicht Erkennbares an seinem Körper untersuchte, ob seine
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