Nie mehr Nacht (German Edition)
Mutter kurzes oder noch langes Haar hatte, als er sie mit diesem Koffer sah. Aber er wusste es nicht mehr, und auch ich war mir gar nicht mehr sicher, ob Ira auf dem Strandfoto lange Haare hatte oder kurze.
Die Nacht darauf war die letzte vor meiner Fahrt nach Bayeux. Lärm in einem Zimmer über meinem Matratzenlager weckte mich, und kurz darauf hörte ich Türenknallen und Getrampel. Ich ging hinauf in den dritten Stock und fand Jesse und Margo in einem der Möwenzimmer.
Sie hockten auf dem Boden und beruhigten den Hund. Margo versuchte, ihn aus dem Zimmer zu locken, doch er ließ sich nicht dazu bewegen. Carlo saß inmitten des Gemetzels, das er unter den Möwen angerichtet hatte, und blickte mich verständnislos an.
III
EBEN
BILDER
1
D ie letzte Fahrt mit dem brombeerroten Mercedes meines Vaters machte ich am Sonnabendmorgen zu Flauberts Autohof in einem tristen Vorort von Bayeux.
Das zweigeteilte Areal, Schrottberge rechts, Gebrauchtwagen links, lag am Rand der Reihenhaussiedlung von Saint-Loup. Weite flache Felder, über denen der hellblaue Spätoktoberhimmel stand, begannen jenseits eines baumkronenhohen Zauns und verloren sich im Landesinneren. Ich fuhr den Wagen auf den Hof. Bis zu einer Reihe im Sonnenlicht blinkender Silberpappeln türmten sich Blech und Aluminium nicht nur von Schrottautos, sondern auch Schrottwaschmaschinen, Schrottgeschirrspülern, Schrottmikrowellen und Schrottbadewannen. Ein kleiner roter Gabelstapler kurvte durch die Altmetallgassen, auf der Gabel das Wrack eines Motorrads. In einem Zwinger zwischen lauter Wäscheständergestängen erhob sich ein kupierter Dobermann von seinem Sonnenfleck und gähnte. Und ich war kaum auf dem Teerstreifen vor den Gebrauchtwagenangeboten ausgestiegen und rübergegangen zu dem rundum verglasten Verkaufspavillon, als ich hörte, wie die zuschanden gefahrene Yamaha in die Presse rutschte und ihr Tank darin zerplatzte.
Der goldene SM war nirgends zu sehen. Wie sich herausstellte, war Monsieur Flaubert tatsächlich nicht da. Ein dicker junger Verkäufer, der ihm so ähnlich sah, dass er nur sein Sohn sein konnte, saß in einem viel zu engen Anzug und mit roséfarbenem Hemd hinter dem Tresen. Sein Hemdkragen sah schmierig aus und schimmerte, und weiter hinten in dem muffigen Raum telefonierte an einem Stehpult voller Papiere eine junge Frau in Leggins und Anzugweste, die unentwegt in den Hörer lachte. Ich nickte beiden zu. Der feiste Junior sagte Bonjour, und die Sekretärin drehte sich zur Wand, sodass ich nicht anders konnte, als ihr auf den Hintern zu sehen. Munter lachte sie weiter.
Das Geschäftliche wickelten wir auf Englisch ab. Flauberts Verkäufer prüfte die Fahrzeugpapiere, befand sie für okay, schob mir den Vertrag her, den ich überflog und unterschrieb, dann nahm er die Schlüssel und kam um den Tresen. An seinem Kinn saß eine Narbe, die man für ein Grübchen hätte halten können, und bei genauerem Hinsehen hatte er ein eingeschlagenes Nasenbein. Die Nase war nicht richtig plattgedrückt, sie sah nur aus, als fehlte ihr ein Stück, als wäre das Mittelstück des Rückens herausgeschlagen worden.
»Annik, fini maintenant!«, blaffte er, ohne sich umzudrehen, die Sekretärin an, die augenblicklich gehorchte. Mit einem Gluckser in den Apparat verabschiedete sie sich und legte auf.
»Monsieur?«
Monsieurs Gesicht entspannte sich. Er hielt mir die Tür auf, und wir traten ins Freie. Ein Traktor mit einem Anhänger voller Heizkörper rollte soeben auf den Hof, der Fahrer mit hochrotem Glatzkopf hob zum Gruß die Hand, ehe der Trecker pötternd zwischen den Schrottbergen verschwand.
Erst am Wagen, wo er sich eine Zigarette zwischen die Lippen steckte, stellte sich der Junior vor: Flaubert. Didier. Ich sah zum Pavillon hinüber und las auf dem Dach den Schriftzug, der auch auf den Abschleppwagen prangte: FLAUBERT & FILS . Flauberts Sohn schritt um den Mercedes; ab und zu bückte er sich, kam wieder hoch und schnaufte. Sein Handy klingelte. Er drückte eine Taste, lauschte, keuchte eine Silbe und ließ das Gerät zurückgleiten ins Sakko.
In der Kastanienkrone über dem Holzhaus sah ich ein Eichhörnchen sitzen, das an einem Zweig rüttelte, innehielt, sein dunkles Auge auf uns richtete, weiterrüttelte.
»Bon, Monsieur Lee.«
Er öffnete die Beifahrertür, um nachzusehen, wie es im Innenraum aussah. Im Handschuhfach fand er Jesses Nirvana- CD mit dem tauchenden Säugling darauf und reichte sie mir wortlos nach draußen. Dann baute
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