Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nie mehr Nacht (German Edition)

Nie mehr Nacht (German Edition)

Titel: Nie mehr Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Bonné
Vom Netzwerk:
sah auf der weißen Stahlwand die Graffiti und Kritzeleien, von denen Kevin geschwärmt hatte. Daten waren in den Lack geritzt, die bis in die Achtzigerjahre zurückreichten, die meisten auf Englisch, von Amerikanern, Briten, Kanadiern, Neuseeländern. Wo er abblätterte, fühlte ich mit den Fingerkuppen über den Lack und spürte die Kanten dutzender Schichten, in denen seit Kriegsende immer wieder Farbe aufgetragen worden war. Alle Namen und Kommentare, die älter als dreißig Jahre waren, hatte man getilgt. Es gab keinen Hinweis auf einen Besucher vor dem Sommer 1980.
    Ira war in diesem Sommer mit einer Schulfreundin in Südengland gewesen, auf Sprachreise in Bournemouth. Ich hatte die Ferien zu Hause verbracht, hatte mich nach ihr gesehnt und ihr Briefe geschrieben und Kassetten aufgenommen, bis unsere Eltern mein Gejammer satthatten und mit mir nach Fehmarn fuhren. Zwei Wochen lang zeichnete ich dort, was ich vor mir sah, egal, womit und worauf. In den von Scheinwespen wimmelnden Dünen des Grünen Brinks auf Fehmarn kam ich mir wie eine Insel in einem absurden Ozean vor und bejubelte alles, was ich malte, weil es mich davon überzeugte, dass ich tatsächlich vorhanden war. Als Ira zurückkam und plötzlich fließend Englisch sprach, nähte sie mir aus einem alten Trenchcoat unseres Vaters eine Weste, wie Joseph Beuys sie trug, mit bestimmt dreißig Taschen für Fundstücke, Zettel, Stifte, Notizen.
    Ich kletterte auf den Erdwall. Von oben konnte man über das Geländer hinweg auf die Brückenplatte spähen, doch da war außer Stahl und schmutzigem alten Lack nicht viel zu sehen. Ich war enttäuscht, weil sich nicht augenblicklich ein wuchtiger Eindruck einstellte. Alles wirkte vorbereitet. Rote Papppfeile steckten in Zellophantüten und deuteten auf eine Handvoll Einschusslöcher, die von etlichen Lackierern in den letzten siebzig Jahren für nicht der Rede wert erachtet und überpinselt worden waren. Die Längsseite der Brückenplatte lag in Reichweite, sie war schmal, dafür lang, über zehn Meter weiße Fläche. Darauf sprühte ich die Brücke, wie ich sie mir vorstellte. Sie stand wieder am Ufer. Sie führte wieder über den Kanal. Und der Hügel hatte noch keine Teiche, sondern wieder einen See und war arschnackt. Ich behielt den Parkplatz und die Kieswege im Auge, während ich sprayte, aber es kam die ganze Zeit kein Mensch. So verging eine Stunde, in der meine Hände vor Kälte violett anliefen und ich froh war, dass ich nur die eine Dose Lack hatte.
    Erst aus einiger Entfernung konnte man die Zeichnung erkennen. Der Lack war etwas heller als der der Brücke, und sehen ließ sich meine Pegasusbrücke ohnehin nur, wenn man die weißen Linien und Punkte auf dem etwas dunkleren Grund nicht für Geschmiere oder Ausbesserungen hielt. »Vous n’êtes pas gentil, Monsieur«, sagte ich laut zu mir selbst, als über den verwaisten Parkplatz der Wind fegte, und ich versprach mich nicht mal dabei.

6
    A n einem der folgenden Weißweinabende überkam mich eine nicht zu bändigende Lust, mit Annik zu schlafen. Vor allem ihre Wimpern malte ich mir so nah vor meinen Lippen aus, dass ich das Silber von ihnen hätte ablecken können. Am nächsten Morgen rief ich beim Schrottplatz an, sprach kurz mit Didier Flaubert und dann mit ihr. Ich lockte sie ins L’Angleterre , und dort verführte ich sie oder versuchte es wenigstens. Denn es gelang nicht. Annik roch den Braten, sie hatte ihn schon durchs Telefon gerochen.
    Wir spielten Billard, und sie gewann. Wir spielten noch mal, und sie gewann wieder, noch deutlicher. Die dritte Partie brach ich ab, als sie absichtlich schlecht spielte und es trotzdem unentschieden stand. Ich sank in den Sessel und griff nach der kühlen Flasche. Annik kam um den Tisch, setzte sich auf meinen Schoß, ich staunte, wie schwer sie war, nahm die Flasche, trank, dann küsste sie mich, küsste mich drei- oder viermal zärtlich und nicht flüchtig. Dabei sah sie mich an, und das hieß nichts Gutes.
    Sie nahm meine Hand, legte sie auf ihre Brust und hielt sie so fest.
    »Was spürst du?«
    Sagen konnte ich nichts, ich war ganz Hand.
    Und Annik sagte: »Du spürst ein Geheimnis.«
    Wir wärmten uns Ravioli aus der Dose auf und tranken dazu noch eine Flasche von dem 1996er Sancerre. Wir lachten. Wir hörten Joy Div und aßen Birnenkompott. Ich erzählte von der Pegasusbrücke und dass ich mich gefragt hatte, wie lange die Flauberts wohl brauchen würden, bis sie die Brücke ratzekahl abgetragen und

Weitere Kostenlose Bücher