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Nie mehr Nacht (German Edition)

Nie mehr Nacht (German Edition)

Titel: Nie mehr Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Bonné
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den Sandweg zum Strand hinunter, verschärften sie ihr Warngeschrei, formierten sich weit oben erst zu einer Wolke und segelten dann einzeln herunter und immer näher, um auszukundschaften, was ich vorhatte. Ich schnitt mir einen Durchlass in den Stechginsterbusch. Seemöwen, seht her!
    Es dauerte geraume Zeit, bis ich das Fahrrad zum ersten Mal greifen und am Sattel aus seinem Dornenrankengewirr herauslösen konnte, ein weißes Peugeot-Damenrad. Den Gepäckkorb und das darin zusammengerollte Kettenschloss ließ ich liegen. In Ruhe rauchte ich die letzte Zigarette, blickte dabei übers Meer und dachte an meine nächtlichen Radtouren mit Ira und wie viel sie währenddessen geraucht hatte. Dann warf ich die leere Packung und das Feuerzeug weg. Als ich meine Beute davonschob, drehte ich mich nicht um, doch ich wusste, in meinem Rücken würde der Stechginster alles tun, um die Tür, die ich in ihn hineingeschnitten hatte, so schnell wie möglich wieder zu schließen.

5
    S ich auflösen, verschwinden, und am Schluss …« – zwei Tage lang, während ich in der Hotelküche das Fahrrad auseinandernahm und wieder zusammenbaute, fragte ich mich, versuchte mich mit aller Macht zu entsinnen, wie dieser Vers weiterging. Aber ich kam nicht drauf, wurde immer wütender auf mich und mein löchriges Gedächtnis und setzte schließlich alles daran, auch den Versanfang zu vergessen.
    Stattdessen entdeckte ich eine Verbindung zwischen Frühstückspavillon und Gerätehaus: Hinter einer Tapetentür führte ein schmaler, von einer nackten Glühbirne erhellter Gang in den Schuppen. Er hatte ein einziges kreisrundes Fenster, wie ein leuchtend blaues Auge sah es aus. In den Regalen der kleinen Hotelwerkstatt fand ich alles, was ich für meine Reparatur brauchte, sogar eine Dose Kettenspray.
    Auf einen Sonnentag folgte erneut ein grauer, von Sturmböen durchjagter. Im Hotelhof lag von Tag zu Tag mehr Laub. Im gleichen Tempo leerte sich Maybritts Kühlschrank. Ich aß wenig, trank tagsüber viel Wasser und abends fast ebenso viel Wein. Auf der Suche nach dem Weinkeller fand ich mich mitten in der Nacht in einer Speisekammer wieder, wo Konserven und Eingemachtes standen und jede Menge Weißwein lagerte.
    »Sich auflösen, verschwinden, und am Schluss …« – was dann, wie ging es nach dem Schluss weiter?
    Was tun, wenn du dich aufzulösen beginnst, wie verschwindest du dann wirklich? Und was sollte das eigentlich heißen: verschwinden? Ich fertigte eine Zeichnung an, und nach der baute ich das Rad Stück für Stück wieder zusammen. Teile, die ich nicht brauchte, ließ ich weg, und wieder einmal staunte ich, wie wenig doch dran war an so einem Fahrrad und wie schmal alles war und wie genau es zusammenpasste. Ich hatte keine Ahnung, wie es weitergehen sollte. Wie im Rausch, einem besinnungslosen Taumel, hatte ich Freunde, Eltern, Beruf, Besitz, mein ganzes Leben hinter mir gelassen. Ich hatte nicht alle Zelte abgebrochen, sondern nur meins, denn die anderen konnten mir gestohlen bleiben. Und jetzt, wohin jetzt? Nirgendwohin, ins Nirgendsland.
    Es war nicht die bekannte Geschichte. Es war etwas anderes. Es war ernst. Es ging um die Frage, ob das noch ein Leben war oder nicht bloß die Aufrechterhaltung der Lebensfunktionen. Die Antwort, erstaunlich, war einfach: Finde es heraus.
    Cambes lag südwestlich von Caen, mit dem Fahrrad war mir die Strecke zu weit. Für den Hinweg hätte ich zwei Stunden benötigt, und bei so starkem Seewind für den Rückweg bestimmt die doppelte Zeit. Aber ich wollte unbedingt noch einmal zum Gui.
    Aus Sussex zog ein ausgedehntes Stück blauer Himmel heran. In der Küche putzte ich meine Schuhe, dann stellte ich sie in den Hof, und als ich eine Stunde später hineinschlüpfte, durchrieselte mich ein Glücksgefühl, weil die Sonne sie auch innen aufgewärmt hatte.
    Ich fuhr nach Marigny, heiter und beschwingt vom Schnurren des Rads. Dort stellte ich es ab und wartete, während ich durch den Ort lief, auf den Bus. Kein Mensch war zu sehen, nur ein großer hellbrauner Hund trottete mir eine Zeit lang über die Straßen voller Schlaglöcher nach. Er erinnerte mich an Zeichnungen, die Carl Philipp Fohr von seinem Hund gemacht hatte, Grimsel, mit dem er über die Alpen bis nach Rom gewandert war. Lauter Spatzen badeten im Sand der eingetrockneten Pfützen. Und wenn sie aufstoben, weil erst ich und dann der Hund daherkam, sahen sie am Himmel wie Tagsterne, ein umgekehrtes Sternbild aus.
    Der Bus brachte mich nach

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