Nie Wirst Du Entkommen
16. März, 8.15 Uhr
Tess schloss die Tür zu dem angrenzenden Hotelzimmer. »Er schläft jetzt.«
Das tat er, aber nicht mit dem gesunden Schnarchen, an das Tess sich noch aus ihrer Kindheit erinnerte. Sein Schlaf war leicht, seine Atmung flach. Während ihres Praktikums war sie auch in der Kardiologie gewesen. Sie kannte die graue Haut, die angestrengte Atmung. Die Hoffnungslosigkeit der Patienten, wenn das Herz aufgab und sie auf den Tod warteten.
Ihr Vater würde sehr bald einer dieser Patienten sein. Kummer und Reue stiegen in ihr auf und erzeugten auch in ihr Hoffnungslosigkeit. »Ich wusste nicht, dass es so schlimm ist«, flüsterte sie und wandte sich zum Fenster um, wo ihre Mutter und Vito saßen und Kaffee tranken. Das Gesicht ihrer Mutter war gelassen, aber die Angst in ihren Augen verriet sie.
»Er wollte nicht, dass ich es dir sage. Gott weiß, dass du deine Sturheit von ihm geerbt hast.«
Tess setzte sich zu Tode erschöpft auf Vitos Bett. »Er sagt, dass er auf der Liste für eine Transplantation steht.«
»Ja.« Gina zuckte die Achseln. »Aber in seinem Alter …« Sie sah zur Seite und blinzelte.
Vito drückte ihre Hand. »Mom, nicht. Bitte nicht weinen.«
Gina warf Tess einen Blick zu. »Als er dich in den Nachrichten sah … bekam er Schmerzen.«
»Es tut mir leid.«
Gina schüttelte den Kopf. »Lass gut sein. Er hat in letzter Zeit viel über euch beide nachgedacht. Wenn er glaubt, dass ihn niemand sieht, weint er manchmal.«
Tess’ Augen brannten, und ihre Kehle verengte sich. »Hör auf«, flüsterte sie heiser.
»Entschuldige.« Ruhig nippte ihre Mutter an dem Kaffee. »Ich wollte dir nicht noch Schuldgefühle einimpfen. Ich möchte nur, dass du weißt, wie es steht. Die Ärzte sagen, er lebt vielleicht noch ein Jahr, vielleicht auch nur sechs Monate. Und wenn sie wüssten, dass wir gerade hier sind, würden sie garantiert ziemlich wütend werden.«
»Er hätte nicht herkommen dürfen«, flüsterte Tess.
»Nichts auf der Welt hätte ihn davon abhalten können, ins Flugzeug zu steigen, Tess. Es war ihm wichtig, die Dinge wieder ins Lot zu bringen. Er hat sich viel zu lange nicht geregt.«
Mit einem tiefen Atemzug stellte ihre Mutter die Tasse beiseite und stand auf. »Was er dir heute gesagt hat, war die Wahrheit.«
Tess nickte. »Ja, das weiß ich jetzt. Du hast ihm sofort geglaubt, ich nicht.«
Ginas Lachen war bitter. »Nein, das habe ich nicht.«
Tess sah stirnrunzelnd zu ihr auf. »Aber … das verstehe ich nicht. Du hast gesagt …«
»Ich weiß, was ich gesagt habe. Und ich weiß, was ich getan habe. Ich musste die vergangenen fünf Jahre damit leben. Ich wusste, dass an jenem Tag damals etwas Schreckliches passiert war. Du kamst zurück in den Laden und warst leichenblass. Aber zuerst hast du nichts gesagt.«
»Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich wollte dir nicht weh tun.«
»Ich weiß. Aber was du nicht weißt, ist, dass ich bereits von der Frau wusste, als ich es dir einen Monat später aus der Nase gezogen habe.«
»Das … verstehe ich nicht«, wiederholte sie.
Ihre Mutter ging zum Fenster. »Wusstest du, dass teure Prostituierte gerne Visitenkarten mit sich herumschleppen? Später fand ich so eine in der Hosentasche deines Vaters. Ich sagte mir, dass das keine Bedeutung hatte, dass diese Frau bloß eine neue Kundin war und dir einfach übel gewesen ist, wie du damals behauptet hast. Als ich dich endlich dazu brachte, mir zu sagen, was du gesehen hast … Ich weiß nicht, was da über mich kam. Was ich getan habe, war schrecklich, und ich bereue es bis heute.«
Sie seufzte bitter. »Ich habe dich geschlagen und Lügnerin genannt, dann konfrontierte ich deinen Vater mit dem, was du mir gesagt hattest. Ich wollte an eine Lüge deinerseits glauben. Aber er bestätigte es. Er erzählte mir eine Räuberpistole von einer Frau, die einfach so im Hotelzimmer auftauchte und sich auszog. Dass er sie nicht angerührt habe. Und wie eine brave Ehefrau habe ich ihm gesagt, ich würde ihm glauben.«
»Hast du aber nicht«, murmelte Tess.
Gina warf einen Blick über die Schulter.
»Welche Frau, die vor sich selbst Respekt hat, würde das wohl tun?«
»Mom.« Vito sah sie schockiert an.
Sie seufzte wieder. »Ja, ja. Nachdem ich mit deinem Vater gesprochen hatte, wollte er mit dir sprechen.«
»Ja, ich erinnere mich.« Ihre Mutter hatte sie gebeten, nach Hause zu kommen – sie müssten reden. Jetzt verstand sie die Bitte. »Und an dem Tag hatte er seinen
Weitere Kostenlose Bücher