Nie Wirst Du Entkommen
Sexsucht bei Ihnen in Behandlung«, schloss Aidan, aber sie schüttelte den Kopf.
»Nein, sie war wegen ihrer Depressionen bei mir. Ich lernte sie vor fast einem Jahr kennen. Sie war nach einem Selbstmordversuch im Krankenhaus gewesen. Sie hatte sich die Pulsadern aufgeschlitzt, und zwar so, wie es Menschen tun, die wirklich sterben wollen. Sie werden Narben an ihren Handgelenken finden, wenn Sie sie nicht schon entdeckt haben.«
Ja, er hatte sie schon entdeckt. Ironischerweise hatten die Narben zu den wenigen Identifikationsmerkmalen gehört, die den Sturz überstanden hatten. »Was war der Grund für den Selbstmordversuch vor einem Jahr, Doktor?«
»Wie ich schon sagte. Selbsthass.«
»Aber sie hasste sich doch schon eine ganze Weile. Warum hat sie sich ausgerechnet diesen Moment ausgesucht, um sich die Pulsadern aufzuschneiden?«
»Sie hatte ein weiteres Trauma zu verarbeiten.«
Langsam fing sie an, ihn mächtig zu ärgern. »Und was war das?«
»Ihre Schwester hatte sich erhängt. Cynthia hat sie gefunden.«
Er musste sich beherrschen, um sich seine plötzliche Erregung nicht anmerken zu lassen. »Und warum hat sie sich erhängt? Ihre Schwester.«
»Die Schwester war jünger als Cynthia. Als Cynthia von zu Hause fortgelaufen war, machte sich ihr Vater über die Schwester her. Das Mädchen kam auch als Erwachsene mit den Erinnerungen nicht zurecht und brachte sich um. Cynthia hatte enorme Schuldgefühle, dass sie ihre Schwester mit dem Vater allein gelassen hatte. Ihr Selbstmord war mehr, als sie ertragen konnte.«
»Wie hieß denn diese Schwester, Doktor?«
Sie schlug die Akte auf und ging durch die Blätter. Die meisten Seiten waren getippt, doch einige waren auch handgeschrieben. Sie zog eine solche handschriftliche Seite hervor und überflog sie. Er las oben ein Datum im April des vergangenen Jahres. »Die Schwester hieß Melanie. Sie hat sich …« Sie brach ab und starrte mit aufgerissenen Augen auf die Seite. »Exakt vor einem Jahr umgebracht. O Gott. Das hätte ich vorhersehen müssen.« Ihr Kehlkopf arbeitete, als sie zu schlucken versuchte, und einen Moment lang war Aidan versucht zu glauben, dass Murphy recht hatte.
Murphy fuhr sich mit dem Handrücken über die Lippen. »Wir haben Medikamente in ihrer Wohnung gefunden. Ziemlich viele.«
Sie hob ihren Blick zu Murphy, und ihre Augen waren vollkommen frei von Ärger oder Trotz. »Ich habe ihr Xanax verschrieben.«
»Die toxikologische Untersuchung hat ergeben, dass sie PCP genommen hat.«
Ciccotelli schüttelte vehement den Kopf. » PCP ? Ich habe nie Anzeichen von Drogenmissbrauch bei ihr gesehen.«
»Nun, nicht, wenn Sie ihr die Drogen gegeben haben«, sagte Aidan freundlich.
Ihr Kopf fuhr herum, und sie starrte ihn an, zwei rote Flecken auf den Wangenknochen. »Was soll denn das heißen?«
Aidan schwieg. Stattdessen begann er, die Fotos auf den Tisch zu legen, die sie in Adams’ Wohnung gefunden hatten.
Und sah zu, wie ihr alles Blut aus dem Gesicht wich. »Oh, mein Gott«, flüsterte sie und nahm mit zitternden Händen ein Bild nach dem anderen auf. Als sie das letzte sah, das von Melanie, die tot in der Schlinge baumelte, stieß sie einen wimmernden Laut aus. »Wo haben Sie die gefunden?«, fragte sie mit einem erstickten Flüstern.
Murphy begegnete seinem Blick, und er konnte einwandfrei
Ich hab’s dir ja gesagt
herauslesen. Er stieß das Galgenbild an. »Dies hier lag an der Balkontür. Einige von den anderen sind per Post gekommen. Ohne Absender.«
Sie starrte immer noch auf die Fotos, ihre Stimme immer noch ein Flüstern. »Aber wer tut denn so etwas?«
Aidan zog eine Braue hoch. Erneut musste er zugeben, dass es sie wirklich zu treffen schien … falls sie unschuldig war. Falls nicht, war sie die beste Lügnerin, die ihm je über den Weg gelaufen war. Und solange Murphy an die erste Möglichkeit glaubte, musste er die zweite verteidigen.
»Ein paar der Bilder kamen auch als E-Mail. Haben Sie Cynthias E-Mail-Adresse, Doktor?«
Sie wandte sich ihm langsam zu, die Augen erneut voller Misstrauen. »Ich habe sie irgendwo, ja. Das ist ein Punkt auf meinen neuen Annahme-Formularen.« Sie wandte sich wieder an Murphy. »Warum?«
Murphy schürzte die Lippen. »Zeig’s ihr.«
Aidan verließ den Raum und kam mit dem Kassettenrekorder zurück, den er draußen gelassen hatte. Er stellte den Apparat neben Ciccotelli und wartete, bis sie ihn ansah, bevor er die Playtaste drückte.
»Cynthia.« Es war ein kindliches Jammern,
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