Nie Wirst Du Entkommen
ihrer Stimme war angestrengt, und Tess wusste, dass ihre Freundin bloß versuchte, für den Fall, dass jemand zufällig mithören sollte, die Fassade aufrechtzuerhalten. »Du hast größere Möpse als ich, du leierst mir das gute Stück nur aus.«
Dass Amy sie aufheitern wollte, verdüsterte Tess’ Stimmung nur noch. Die Situation, in der sie sich befand, war verdammt ernst. Wenn das herauskam, würde ihr Ruf als Psychiaterin leiden. Und dass es herauskommen würde, war leider nicht zu bezweifeln. Es gab keinen Cop im weiten Umkreis, der nicht vor Freude Luftsprünge machen würde, wenn er die Gelegenheit hatte, ihrer Praxis zu schaden. Nach der Sache mit Harold Green hatten sie dafür gesorgt, dass ihre Verträge mit dem Büro der Staatsanwaltschaft nicht verlängert wurden. Sie vor Gericht gezerrt zu sehen, wäre das Tüpfelchen auf dem i. »Sei nicht so egoistisch, Amy«, sagte sie beißend. »Der schwarze Pulli wird mich nicht nur warm halten, sondern auch ganz hervorragend zu den Gefängnisstreifen passen. Die machen Gott sei Dank wenigstens schlank.«
»Komm schon, Tess«, murmelte Amy ernüchtert. »Auch wenn es jetzt nicht gut aussieht, das kriegen wir schon hin. Warte ab. Und jetzt besorgen wir dir etwas zu essen. Wahrscheinlich hast du heute noch nichts zu dir genommen, richtig?«
»Nein.« Murphy hatte ihr angeboten, ein Sandwich zu holen, während sie auf Amy gewartet hatte, aber sie hatte abgelehnt. Sie hatte keinen Appetit gehabt, aber selbst wenn, hätte sie keine Hilfe von Todd Murphy annehmen wollen. Jetzt nicht mehr.
»Na komm, wir fahren zu mir, und ich mach dir eine Suppe.«
Der Gedanke an Amys Suppe verursachte ihr erneut ein flaues Gefühl im Magen. »Nein, danke. Fahr mich bitte einfach nach Hause. Das geht schon.«
Amy biss sich auf die Lippe. »Tess, wenn du nichts isst, wirst du wieder krank.«
Tess spürte Verärgerung in sich aufkochen und drückte sie weg. Amy meinte es nur gut. Sie meinte es immer nur gut. »Ich werde etwas essen, versprochen. Und jetzt lass gut sein.«
»Doktor? Dr. Ciccotelli?«
Tess blieb stehen. Nicht, weil sie mit der Frau reden wollte, die sie gerufen hatte, sondern weil die Frau ihr vor der Glastür den Weg versperrte. Sie war jung, fünfundzwanzig vielleicht, und wirkte sehr eifrig mit ihren großen grauen Augen und der schmalen Brille. Ein langer, blonder Zopf hing ihr über die Schulter, und sie hatte ein Grübchen im Kinn. Ihr Akzent entlarvte sie als Südstaatenmädchen, das neugierige Leuchten in ihren Augen als Reporterin.
Na toll, los geht’s,
dachte Tess und fragte sich, welcher der Cops im Bezirk seinen Abscheu vor der Presse überwunden hatte, um ihr diesen Piranha auf die Spur zu hetzen.
»Ich heiße Joanna Carmichael und arbeite für den
Bulletin
an dem Fall Adams. Sie waren gestern Abend kurz nach dem Sprung der Frau vor Ort. Was sagen Sie zu der Meinung der Polizei, dass der Sprung von Miss Adams erzwungen war?«
Amys Arm schob sich vor Tess. »Kein Kommentar«, grollte ihre Freundin. »Lassen Sie uns durch.«
Tess betrachtete die junge Frau nachdenklich und traf eine Entscheidung. Joanna Carmichael wusste nicht, dass sie verhört worden war, sonst hätte sie ihre Frage anders gestellt. Wenn die Presse Wind davon bekam, konnte es nützlich sein, ihr eigenes Sprachrohr zu haben. »Geben Sie mir Ihre Karte«, sagte sie. »Wenn ich etwas zu sagen habe, rufe ich Sie an.«
Carmichael suchte in ihrer Tasche und holte eine Visitenkarte heraus. »Vielen Dank.«
Draußen atmete Tess tief die kühle, frische Luft ein. Der graue Himmel hatte beinahe dieselbe Farbe wie die Augen dieser Frau. Aber der Gedanke an Augen rief ihr augenblicklich Aidan Reagans in Erinnerung, diese durchdringenden, blauen und anklagenden Augen.
Sie konnte gehen, wohin sie wollte. Dass das möglicherweise ein Problem hätte sein können, war ein Gedanke, den sie sich im Verhörraum absichtlich versagt hatte. Sie hatte ihre Gefühle in kalte Wut kanalisiert, und die hatte sie die ganze Stunde über, die sie hatte warten müssen, aufrecht gehalten. Wut war sicherer als Angst. Doch nun, da sie unter freiem Himmel stand, traf die Furcht sie mit aller Macht, und sie schauderte heftig.
Der Alptraum war noch nicht vorbei. »Ich muss nach Hause«, murmelte sie
. Ich habe einiges zu tun.
Sonntag, 12. März, 18.30 Uhr
A idan trat aus dem kalten Regen in die warme Waschküche seiner Eltern. Er schauderte, als ihm der Duft von etwas Köstlichem in die Nase drang. Vermutlich
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