Niedergang
sie ihn gesehen, ging sie weiter, als habe sie nicht stehen bleiben, nur schnell etwas nachschauen wollen.
Wieder sah er auf einem größeren Felsen eine der rot-weißen Wegmarkierungen, nach denen er sich seit dem Vormittag orientierte. Da es nur einen Weg gab, brauchte er die Karte nicht, höchstens, um die Distanz abzuschätzen.
An diesem Nachmittag hatten sie sich einiges vorgenommen. Erst der steile, zweistündige Weg, von dem ihnen noch ein Viertel blieb, dann das Auf und Ab eines Panoramaweges, der hügelig wie eine überdimensionierte Buckelpiste und somit kräfteraubend war: ein Kamm, bei dem es wenige Meter neben dem Weg links und rechts steil hinunterging, lebensgefährlich. Für diesen Weg benötigten sie nach Andrés Berechnungen knapp drei Stunden; er endete bei der nächsten großen Erhebung, wo sie ihr Zelt aufspannen wollten, bei ihrem Berg, den sie am dritten Tag bezwingen würden, inklusive der finalen Kletterpartie!
André schritt energischer voran. Sie hatten noch viel vor sich, und jede Passage, jeden Meter auf dem Weg zum Ziel wollte er lieber gleich bewältigt haben als später. Er scheute sich nicht, ihr ehrgeiziges Vorhaben zielgerichtet in Angriff zu nehmen; bloß keine Zurückhaltung, keine Unsicherheit aufkommen lassen! Im Nu wäre der Wille nicht mehr da, die Kraft verschwunden. Man durfte mit Zweifeln erst gar nicht beginnen, niemals. Wer daran zweifelte, dass er die Strecke schaffte, hatte bereits verloren, innerlich kapituliert.
Auch Louise marschierte wie ein aufgezogenes Maschinchen, zwar einige Höhenmeter unter ihm, aber gleichmäßig, in ihrem Tempo.
Gut so. Sie würde auch den Abschnitt schaffen, den er soeben in Angriff genommen hatte, einen noch steileren. Der Weg verwandelte sich hier mehr und mehr in eine Treppe. Die Stufen bestanden zumeist aus großen Steinen, manchmal Erderhebungen, und waren höher als Treppenstufen, durchaus kniehoch; ab und an reichte eine sogar bis zur Mitte des Oberschenkels. Man musste sie mit Schwung, ganz selbstverständlich nehmen, den Fuß sorgfältig daraufstellen, damit man nicht stolperte oder abrutschte, und dann hopp!, wie eine Feder, mit geradem Rücken, als mache das Spaß und brauche keine Kraft– mühelos musste man hochfedern.
Zweifelsfrei würde eine Häufung solcher Stufen sie mit ihren schweren Rucksäcken innert kürzester Zeit physisch erledigen. Aber daran durfte man nicht denken! Man musste die Stufen einfach niedertrampeln, wie die hässlichen Namen, die manche Deutschen ihren armen Töchtern gaben.
Schon hatte André die Passage besiegt. Er lachte über die Herausforderung, die der Weg ihm gestellt hatte und die keine echte gewesen war, und beschleunigte jetzt auf dem steilen, aber stufenlosen Steinpfad umso stärker, wie zum Hohn. In einigen Minuten würde er das Plateau erreicht haben, und erst von dort oben würde er sich nach Louise umsehen und schauen, wo sie blieb. Er wollte ihr demonstrieren, wie leicht es ging, dass man sich nicht einschüchtern lassen durfte, dass man große Stufen einfach nehmen musste, die einzelnen spitzen Herausforderungen mit seinem Willen niedermähen!
Das wilde Steinfeld war inzwischen milder geworden; es gab weniger kleine und mittelgroße Steine, beinahe nur noch riesige, glatte Felsen. Und sie gingen auf diesen Felsen, waren dabei, diesen Berg, diesen Wal zu bezwingen. Die Aussicht war überwältigend! Er war gespannt auf Louises Meinung.
André federte Schritt für Schritt dem Zwischenziel entgegen, und er hätte gleich wieder hinunter- und noch einmal heraufsteigen können, so leicht fiel es ihm. Alles lief glatt, er hatte die Wanderung richtig geplant, die Kräfte richtig eingeschätzt: in gut drei Stunden würden sie den Fuß ihres Berges erreicht und den Feierabend verdient haben; dann schnell das Zelt aufspannen und kochen und den Sonnenuntergang genießen, schlafen, und dann– dann konnten sie endlich ansetzen zur Bezwingung des Riesen und die einzige richtige Herausforderung, nämlich die letzten Stunden unterhalb des Gipfels und die Kletterpartie, in Angriff nehmen.
Auf diesen morgigen Tag freute André sich besonders. Er wollte mit Louise das Vorhaben schaffen, ihr zeigen, dass es ging, dass sie dieses Abenteuer stemmen konnten, hatte Louise doch bei der Planung einige Zweifel gehabt.
Noch fünfzig Meter trennten ihn von dem Plateau; gleich war er oben. Er erhöhte noch einmal das Tempo. In jeder Faser seines Körpers steckten ganze Vorräte an Energie, und es war gut,
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