Niedergang
André einmal die Mitte verließ und sich der einen Seite näherte, die zuerst leicht abfiel, dann beinahe senkrecht nach unten ging, fünf bis zehn Meter, wo die Wand weniger steil, beinahe flach wurde und sich Schutt angesammelt hatte, rief Louise erschrocken, er solle das unterlassen und sofort wieder herkommen.
» Vielleicht würde man überleben « , sagte er lächelnd, » es ist nicht ganz senkrecht, man würde eher rutschen als fallen. «
» Hör auf! « , befahl Louise.
Nachdem er noch einmal hinuntergeschaut hatte, ging er zu ihr zurück. Sie müsse keine Angst haben, sagte er, er passe gut auf, wo er hintrete.
Nun durften sie keine Zeit mehr vertrödeln. Sie wanderten in flottem Tempo, und die Strecke gestaltete sich ebenso abwechslungsreich wie anstrengend: der Weg lag einmal auf dem Grat, dann auf der einen Seite einige Meter unterhalb, stets jedoch gab es dieses vergnügliche und kein Ende nehmen wollende Auf und Ab. Sie stiegen zehn, zwanzig, dreißig Meter hoch auf einen kleinen Gipfel, und kaum waren sie oben angekommen, ging es ebenso steil wieder hinunter, dann, um eine leichte Kurve biegend, wieder fünf Minuten hoch, drei Minuten hinunter…
Die abfallenden Teile waren nicht weniger anstrengend, im Gegenteil, das Körper- und Rucksackgewicht ging beim Abstieg voll in die Knie, in die Fußgelenke, und die Schienbeinmuskeln würden am nächsten Tag schmerzen, daran bestand kein Zweifel.
Überhaupt: Muskelkater. Den hatten sie bereits, obwohl sie doch zu Hause oft und lange unterwegs gewesen waren. Aber beim Auf- und Abstieg wurden andere Muskeln gebraucht, und selbst die harmlosen Abstiege bei der großen Ebene, die durchsetzt von einigen niedrigen Hügeln gewesen war, hatten bereits zu Muskelkater in den Schienbeinen geführt, der sich jetzt noch verstärken würde. Ansonsten: Muskelkater in den Waden und Oberschenkeln, am Hintern; Druckstellen an der Hüfte und an den Schultern. Aber an den Füßen keine Blasen, weder bei Louise noch bei André.
Dieser Achterbahnweg konnte ohne Übertreiben als paradiesisch bezeichnet werden. Von Einöde keine Spur. Wegen der Erhebungen, Hügel oder eher: Zacken und der Kurven– denn manchmal führte der Weg nicht über das gebirgige Hindernis, sondern um es herum– sahen sie nicht, wie es weiterging, was stets neue Überraschungen brachte. Allerdings war auch kein Ende absehbar. Das kräfteraubende Auf und Ab glich einem Intervalltraining, wobei die abfallenden Passagen bei einem solchen Training die Erholungsphasen gewesen wären. Doch sie mussten die Spannung halten, sonst wären sie ins Laufen gekommen und vielleicht hingefallen oder hätten sich den Knöchel gestaucht; sie mussten ständig abbremsen, das drückende Gewicht ihres Rucksacks und ihr eigenes– kurz und gut: auf der einen Seite der Erhebung das Gewicht hochschleppen, auf der anderen Seite das nach unten stoßende Gewicht bremsen.
André hatte bei der Planung anhand der Höhenkurven auf der Karte gesehen, dass zwischen dem Start und dem Ziel des dreistündigen Weges lediglich neunzig Höhenmeter Differenz lag; wären die Hügel dazwischen nicht gewesen, hätten sie einen beinahe ebenen, leicht aufsteigenden Spaziergang vor sich gehabt. Doch wegen des ständigen Auf und Abs betrug die tatsächliche Steigung, die sie zu bewältigen hatten, etwa vierhundert Meter, das Gefälle gut dreihundert.
Aber die Landschaft– ein Traum. Die Lage bot Sicht auf schönste Berge, in breite Täler und verlassenste Tälchen, auf Schnee und Wald, Bauernhöfe und Bergdörfer. Und während auf den Erhebungen die Sonne schien, wanderten sie in den Senkungen oft im erfrischenden Schatten. Zwischen den Steinen wuchs Gras, wuchsen karge Blümchen.
André dachte daran, Louise, die einige Meter hinter ihm lief, hier noch einmal zu verführen. Obwohl sie sich erst vor wenigen Stunden geliebt hatten, war seine Lust bereits zurückgekehrt, vielleicht erst richtig angeregt worden. Er stellte sich eine Gruppe von Frauen vor, die wie sie diesen Weg gingen, zuerst spärlich bekleidet, dann nackt, lediglich die Füße in Wanderschuhen. Sie alle besaßen androgyne, magere Körper, wie er sie mochte, wie Louise.
Augenblicklich wollte er stehen bleiben und, wenn sie bei ihm angekommen war, sie küssen, sie hinter einen großen Stein zerren, ihre Hose öffnen, herunterziehen und ihren kleinen, kindlichen Hintern anfassen, in seiner drückenden Hand verschwinden lassen. Aber jetzt eine weitere Pause zu machen ließ die Zeit
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