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Niedergang

Niedergang

Titel: Niedergang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roman Graf
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wären, bis er sie wieder, buchstäblich, in Gang gebracht hätte. Noch immer ein Schmerz wie bei einem Muskelkater. Vermutlich war es Muskelkater.
    Einige Minuten später liefen die Beine wieder wie von selbst, auch wenn sie nach jedem Schritt bereit zur Ruhe gewesen wären, er merkte es. Und es gefiel ihm. Diese eineinhalb Stündchen gefordert zu werden, ein wenig durchbeißen zu müssen, konnte nicht schaden.
    Der Weg setzte sein Auf und Ab fort, manchmal eng schlängelnd, eine Übung für die Geschicklichkeit der Beine, ein Test, ob man noch flink genug oder bereits zu müde war.
    André lächelte. Er sauste durch den Slalomweg, nahm ihn wie ein Gokartfahrer und war mit seiner Wendigkeit zufrieden.
    Er hängte die Daumen in die Schlaufen der Schultergurte und stürzte sich in den nächsten Aufstieg, pflügte sich hoch, bereits wieder in seinem ausdauernden Trott.
    Dann blieb er doch noch einmal stehen, zeigte mit dem Arm hinunter, wo der Berg flacher wurde, bevor er erneut steil abfiel, und wo sich von dem Grau nur schwach eine Gämse abhob, deren Beine, wie sie da stand, wie gekreuzt aussahen.
    Etwas schien mit ihr nicht zu stimmen; sie wirkte ausgehungert, kränklich, als hätte sie den Winter nur knapp überstanden. Louise entdeckte sie erst, als sie sich in Bewegung gesetzt hatte. Auch André ging weiter. Eine Gämse zu sehen war für ihn so selbstverständlich wie ein Murmeltier oder die Vögel, die so leicht dahinflogen, als wollten sie sie verspotten.
    Beim jetzigen Abstieg, dem steilsten bisher, fünfzig Meter, die er mit einem Fahrrad, selbst mit einem Mountainbike bei angezogenen Bremsen nicht hätte hinunterfahren wollen, spürte er eine Stelle am kleinen Zeh schmerzen, oben an der Seite, aber zu einer echten Wanderung gehörte eine Blase. Er lief auch mit wunden Füßen; alles schon gehabt.
    Er ging in die Hocke, so steil war der Weg, stieg seitwärts hinunter, stützte sich mit der rechten Hand an festliegenden Steinen ab. Er wartete auf Louise, um ihr zu helfen. Auch sie suchte mit der rechten Hand nach Halt, beugte das bergseitige Bein stark und streckte das andere, gab ihm die linke Hand. So gelangte sie herunter, ohne ins Rutschen zu kommen.
    Nach fünf oder sechs Stunden Anstrengung eine solche Kletterei– das musste man mit Humor nehmen, und deshalb war es eine Wohltat!
    Wenige Schritte später ging es ebenso steil wieder hinauf. Der Weg verlief im Hang wie eine tiefe Furche, eine riesige Wasserrinne, und es war ratsam, die Hände zu Hilfe zu nehmen, sich an den Wänden abzustützen, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren.
    Unversehens stand André vor einer senkrechten Erhebung, einem riesigen Tritt, der ihm bis zum Brustbein reichte. » Haha « , sagte er, » da will uns jemand auf den Arm nehmen « , und mit » jemand « meinte er den Weg.
    Er sprang, stützte sich mit den Händen auf den Tritt, rutschte, links-rechts, links-rechts, stückweise mit dem Bauch, der Hüfte, der Leiste über die Kante, balancierte einen Moment seinen Körper auf ihr und ließ sich nach vorn kippen, die Beine in der Luft, robbte einige Zentimeter weiter und hatte es geschafft. Was für eine Gaudi!
    » Was soll denn das? « , fragte Louise, die an dem Tritt stand wie ein Kind an einer Theke.

13 – Unruhige Nacht
    Genauer hätte seine letzte Zeitangabe nicht sein können: nach den vorausgesagten eineinhalb Stunden erreichte er das Tagesziel, müde, aber souverän, ohne das geringste Langsamerwerden auf den letzten Metern. Und auch Louise hätte jetzt hier sein können, wenn sie nicht vor zwanzig Minuten beschlossen hätte zu trödeln. Kurz davor hatte er nach einem Blick auf die Karte gesagt, dass sie das Ziel zur vorausgesagten Zeit erreichen würden. Und dann wurde Louise langsamer, als wollte sie dies verhindern; als wollte sie verhindern, dass seine Zeitberechnung stimmte– um sich später, wie er glaubte, darüber beklagen zu können, dass er ihr zu viel zumutete, mehr, als er bei der Planung in Berlin angegeben hatte.
    Er setzte den Rucksack ab, streckte den schmerzenden Körper, schüttelte Arme und Beine aus und überlegte, wo das Zelt am besten aufzubauen sei. Nun war er froh, dass Louise auf sich warten ließ, so hatte er seine Ruhe vor ihr. Er spürte die zurückgelegten Kilometer und Höhenmeter in jedem einzelnen Knochen und wollte sich von Louises schlechter Laune nicht nerven lassen. Dafür fehlte ihm nun doch die Energie.
    Vor einigen hundert Metern war der Grat breiter geworden und

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