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Niedergang

Niedergang

Titel: Niedergang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roman Graf
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man für die Bewältigung des Kamins benötigte, kam ihm lang vor. Während der ganzen Wanderung war er nie allein gewesen; Viertelstunde um Viertelstunde waren unbeachtet verstrichen, er in Gedanken versunken, mit aufgegangenem Herzen, schweigsam, aber nicht allein; stets war Louise ihm gefolgt, wenn auch oft mit einiger Distanz. Niemals hatte er Angst gehabt, sich in dem Gebirge verlaufen zu können, verloren zu gehen, vor der Menschheit zu verschwinden.
    Doch dieser Kamin verschluckte ihn, wie wenn ein Hund einen Käfer herunterschluckte. André stieg entschlossen weiter, manchmal mithilfe der Hände, wenn nötig jetzt doch auf allen vieren; das ziemte sich nicht, aber er war allein.
    Er fraß sich durch, kämpfte sich hoch. Oben, wieder im Freien, würde er sich wohler fühlen. Weshalb der Kamin ihm derart zusetzte, war ihm schleierhaft. Vorhin hatte er noch gelacht, über Geburtstraumen gewitzelt. Doch man ging nie, niemals allein in die Berge; diese Regel kannte er, hatte sie stets ernst genommen und befolgt. Dass er sich von Louise hatte verleiten lassen, die Regel zu brechen, war nicht richtig gewesen, ein Fehler, doch er hatte nicht anders gekonnt. Es musste sein.
    Vielleicht fürchtete er sich nicht vor dem Berg, sondern vor sich selbst? Da!– von oben ein Lichtstrahl.

17 – Im stillen Schneemeer
    Der Schnee reflektierte das Licht so stark, dass André die Augen schließen musste. Vorsichtig öffnete er sie wieder, die Hand wie bei der Berghütte schützend davor, und ließ die Spalten zwischen den Fingern langsam größer werden; der Schnee blendete hier viel stärker. Er hatte es für wahrscheinlich gehalten, dass hier oben Schnee lag, aber die Menge überraschte ihn doch– kein Stein, nicht die Spitze eines Felsens ragte heraus.
    Hier, beim Ausgang des Kamins, am geschützten Fuße eines kleinen Gipfels, sank er mit den Schuhen nur bis über die Knöchel, etwa zur Hälfte des Schienbeins ein. Er befürchtete, dass er weiter vorn bis zu den Knien oder noch tiefer einsinken würde; nun war eingetroffen, wovor er schon vor Wochen manchmal eine leise Angst gehabt hatte– ohne sie sich einzugestehen: immer wieder hatte er sich eingeredet, dass es bestimmt nur kleine Schneefelder geben werde. Reflexartig dachte er, es sei am klügsten, gar nicht erst weiterzugehen, sondern umzukehren und Louise zu folgen.
    In bedächtiger Ruhe legte er jedoch den Rucksack nieder, nahm aus der Deckeltasche die Gletscherbrille, die er wohlweislich mitgenommen hatte, und setzte sie auf. Sie schützte ihn vor Schneeblindheit. Dann verstaute er die Jacke im Rucksack, gleich würde ihm warm werden, und kramte seine alten Gamaschen hervor, die mit einem Gummiband am Schuh befestigt wurden und bis zu den Kniekehlen reichten, wo ein weiteres, eingenähtes Gummiband verhinderte, dass sie herunterrutschten. Aus Erfahrung– bereits viele Jahre her– wusste er, dass die Gamaschen vor dem Eindringen des Schnees nur einen teilweisen Schutz boten. Doch immerhin.
    Nun schaute er auf die Uhr– bereits halb drei. Sie hatten viel Zeit verloren, weil sie im Kamin umgekehrt waren, unten beim Eingang sich getrennt und die Sachen neu aufgeteilt hatten. Er konnte sich nicht erlauben, noch einmal Zeit zu verlieren, aber er würde welche verlieren, allein deshalb, weil viel Schnee lag. Doch diese Möglichkeit hatte er bei seinen Berechnungen berücksichtigt. Aus den zwei Stunden Wanderzeit konnten jetzt vier oder noch mehr werden, bei Tiefschnee und bei solchen Steigungen blieben die Zeitangaben nach oben offen.
    Sollte er umkehren? Frühzeitig aufgeben? Davonrennen, wenn der Berg einmal seine Zähne aus Schnee und Eis zeigte?
    Zeitlich war es wohl zu machen. Die Kletterpartie, wenn er dort erst einmal angekommen wäre, dauerte nur kurz, und auf dem Gipfel wollte er sich nicht lange aufhalten. Und doch war ihm unwohl zumute. Er wollte sich lieber nicht vorstellen, was bei diesem vier oder fünf Stunden langen Kampf– beim Hochklettern, beim Runterklettern, auf dem Rückweg– alles geschehen konnte…
    Doch kapitulieren, das ging nicht. Das war nicht er. Es war zu schaffen, irgendwie, alles war zu schaffen; er musste bloß einen Schritt nach dem anderen machen. Zuerst galt es, das leicht ansteigende Schneefeld zu durchqueren. Es war geschätzte zweihundert Meter lang, ein kleines Schneemeer, das, er ahnte es, Zeit kosten und sich nach und nach in ein großes, riesiges Schneemeer verwandeln würde, in dem man sich verlieren konnte. Aber

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