Niedergang
solche Stille erfuhr, stets war da etwas, ein Fernseher, das leise Summen eines Computers oder eines anderen technischen Geräts, die Stimmen der Nachbarn, die Heizung, die Geräusche machte, die Straße, der Wind– und auch wenn all dies nicht war: in einer Wohnung, im Wald oder auf dem Feld herrschte nie völlige Stille, auch bei angeblicher Stille gab es ein kaum hörbares Rauschen.
Aber hier: nichts. Eine solche umfassende, endgültige Stille kam nur in einer abgeschiedenen Schneelandschaft vor, in der Schweiz hoch in den Bergen, anderswo in den Alpen, in Grönland, am Nord- und Südpol, André wusste nicht, wo noch, mit Sicherheit in Lappland, in Kanada und Alaska, wenn Winter war.
Er horchte– nichts.
Nicht einmal leiser Wind, Vögel, das Knistern schmelzenden Schnees. André drückte die Hand auf die harte Schneefläche, bis sie hörbar einbrach, ein kurzes und einsames Geräusch, schon vorbei und vergessen. Er konnte noch viele solcher Geräusche produzieren, nichts vermochten sie zu ändern an der Totenstille.
Er ließ sich davon nicht beeindrucken. Er war allein, allein auf einem fernen, schneebedeckten Planeten, allein im Weltall, so allein, wie ein Mensch nur sein konnte– es gab viele Worte, die solche Zustände beschrieben–, aber er hatte einen Willen. Er verglich sich mit einer verloren gegangenen Ameise, die zäh und ohne Zweifel ihren Weg ging.
Vorsichtig, aber entschieden schritt er weiter. Furchtlos drang er tief in das Schneemeer hinein, hievte das eine, dann das andere Bein nach vorn, wieder das eine, das andere, lief wie eine Maschine, der Motor eines Autos, der sich in einem zu hohen Gang abmühte, stotternd, kurz davor, abgewürgt zu werden. Das hatte nichts mehr mit einer normalen Wanderung zu tun, nichts mit der Leichtfüßigkeit eines Marathonlaufs. André erinnerte sich an eine Fernsehsendung, die er als Kind gesehen hatte und in der schwere, muskulöse Männer, von denen in einem Wettkampf der Stärkste gekürt wurde, mehrere Kleinwagen umdrehen mussten: sie liefen zu einem Wagen, fassten mit den Händen nach der Kante des Unterbodens, drehten den Wagen aufs Dach, liefen zum nächsten Wagen… So tat André seine Schritte, jeder Schritt ein Kleinwagen, zumindest für ihn, schließlich war er kein Herkules.
Er blieb stehen, um zu verschnaufen, zog die Gletscherbrille aus, um für einen Moment die Wirklichkeit zu sehen: stechende Helligkeit! Ohne Gletscherbrille hätte er nach dem Kamin gar nicht weitergehen brauchen, sinnlos wäre es gewesen. Schon jetzt begannen die Augen zu schmerzen, und ihm wurde ganz wirr von all dem Weiß.
Klaglos, fleißig ging er weiter, Stück für Stück, ohne an ein Aufgeben zu denken. Und dann, endlich!, lag nur noch wenige Meter entfernt eine schräge Felsplatte, teilweise von Schnee bestäubt. Gleich erreichte er das Ufer, die Erhebung!
Er schaute auf die Uhr. Über vierzig Minuten waren vergangen. Für die Bewältigung von fünf Metern hatte er jeweils eine Minute gebraucht. So langsam bin ich gar nicht gewesen!, sagte er in Gedanken zu Louise. Das war sein typischer Humor auf Wanderungen, den zu ertragen von seiner Begleitung ebenfalls Humor verlangte.
Zufrieden rieb er die Hände aneinander. Das Schneemeer war geschafft, und er war noch bei Kräften. Aber was türmte sich da vor ihm auf?
18 – Gefährliche Revanche
Die Zeit, die unerbittlich voranschritt, ließ eine Pause nicht zu. Er war jetzt, das zweimalige Hochsteigen durch den Kamin eingerechnet, knapp eineinhalb Stunden unterwegs, also nicht sehr lange, und hatte ab und an kurze Stehpausen und im Kamin eine ebenso kurze Sitzpause eingelegt. Doch die geleistete Kraftanstrengung war beträchtlich, die eineinhalb Stunden mussten mit dem Faktor zwei oder drei gerechnet werden; der Weg hatte ähnlich viel Energie gekostet, wie wenn er in normal steilem Gelände drei bis viereinhalb Stunden unterwegs gewesen wäre. Eine größere Pause, mindestens eine halbe Stunde, besser eine ganze oder eineinhalb Stunden, drängte sich auf.
Doch das war zeitlich nicht drin. Normalerweise, am Anfang oder in der Mitte einer Wanderung, beharrte er auf regelmäßigen Pausen; der sorgfältige Umgang mit den eigenen Kraftreserven war neben einer weitsichtigen Planung die vielleicht entscheidendste Voraussetzung für das Gelingen einer anspruchsvollen alpinen Unternehmung. Nun drängte jedoch die Zeit, und da er sich in der finalen Phase befand, also kurz vor dem Ziel war, brauchte er keine Rücksicht auf
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