Niedergang
wenigstens bestand keine Lawinengefahr.
Da, wo er stand, war die oberste Schicht des Schnees gefroren; wenn er auftrat, hielt der Schnee einen Moment, dann brach er bis über die Knöchel ein. Seine Hoffnungen beruhten darauf, dass das Schneefeld solche gefrorenen Schichten besaß, auf der Oberfläche und weiter unten, Schichten, die ihn trugen und verhinderten, dass er allzu weit einsank.
Durch die Gletscherbrille wirkte das Schneefeld schattig und kühl, als sei Winter und der Abend hereingebrochen, die Dunkelheit mit ihrer Eiskälte. Der blaue Himmel eine sanfte, graue Fläche; die Welt wie in einem Schwarz-Weiß-Film.
André betrat das graue Feld. Die oberste Schicht war gefroren, er konnte es gut spüren, sie war recht hart, aber nicht stark genug: bereits beim ersten Schritt brach er ein, die Schicht mehr als schuhgroß zerstört, scharfkantig; darunter luftiger Pulverschnee, sodass er tief einsank bis zur Mitte des Oberschenkels; mit dem anderen, linken Bein sank er ein bis zum Knie. Wegen der harten oberen Schicht war das Herausziehen der Beine besonders mühsam.
Meter für Meter kämpfte er sich vor, die Gamaschen bereits gefüllt mit Schnee; bei jedem Schritt spürte er, dass das Gewicht des Rucksacks ihn noch tiefer in die graue Kälte hineindrückte. Und mit den Armen musste er ausbalancieren, um nicht hinzufallen, mit den Händen sich mehrmals auf der Schneefläche abstützen. Immerhin das hielt sie aus, nur einmal sank er mit der Hand ein, bis über das Gelenk. Kälte umschloss die Hand, die scharfen gefrorenen Schneekanten ritzten den Arm. Doch als er ihn sich ansah– nichts. Nur rote Haut.
Nach geschätzten zehn Minuten, mühsamen Minuten, blieb er stehen, das eine Bein vorn feststeckend, das andere hinten, und schaute zurück. Der Eingang des Kamins lag erst wenige Meter entfernt. Jetzt dachte er wehmütig an diesen Kamin zurück; wie leicht war das Gehen darin gewesen!
Jammern half nichts. Er musste durch das Schneefeld, die Strecke hinter sich bringen, die im Hochsommer oder im Spätsommer mühelos in drei Minuten zurückgelegt wurde; er musste hinüber zum Anstieg, zu seinem Berg. Dort, aufgrund der Steilheit, läge weniger Schnee.
Geduld. Nicht verzweifeln, weder in Panik ausbrechen und nach vorn zu stürmen versuchen noch in eine ängstliche Lähmung verfallen und stehen bleiben in der Hoffnung, andere Bergsteiger, ein Helikopter oder Louise kämen ihm zu Hilfe!
Schritt für Schritt musste er gehen, die Aufgabe anerkennen, sich die nötige Zeit lassen und vor allem: eins werden mit der Natur. Er kam sogar in einen Trott, zog das eine Bein heraus, hievte es nach vorn, sank ein, verlagerte das Körpergewicht ein kleines Stück, wenige Zentimeter hin zum Ziel, zog das andere Bein heraus…
Wenn nur das Knie nicht gewesen wäre, das Knie, das er sich im Kamin gestoßen hatte. Nichts Schlimmes war geschehen, lediglich eine leichte Prellung, nicht der Rede wert, und doch fing es zu schmerzen an, jetzt, durch die Belastungen bei diesen umständlichen Schritten, bei denen er unnatürlich lange mit dem ganzen Gewicht auf einem Bein stehen blieb, um das andere nach vorn zu wuchten.
Schmerzen gehörten zu einer Wanderung und erst recht zu einem Abenteuer. Auch der kleine Zeh mit der Blase schmerzte. Schmerzen waren kein Grund zur Sorge. Was schmerzte, war noch da und konnte gebraucht werden. Wenn bloß das Knie seinen Dienst nicht versagte. Dafür gab es keine Anzeichen, aber wer konnte wissen, was in einigen Stunden, am nächsten Tag wäre und ob er es dann durch das Schneefeld zurückschaffen würde.
Wieder blieb er stehen. Eine Haltung zu finden, bei der das Knie entlastet wurde, war nicht einfach; er stand so da wie vorhin, ein versteinerter Schritt, das eine Bein vorn, das andere hinten. Tat die Kälte dem Knie gut oder wäre Wärme besser? Bei einer Prellung half Kühlung, aber bei Gelenkproblemen? Und an was litt er, an einer Prellung oder stimmte im Innern des Knies etwas nicht? Seine Fragen, wenn auch nur in Gedanken formuliert, drangen in die Schneelandschaft hinaus, und keine Antwort folgte.
Auf einmal fiel André die völlige Stille auf, erst war er verwundert, dann erschrocken, dass sie ihm nicht früher aufgefallen war. Wie stand es um seine Sinne? So etwas musste er doch wahrnehmen, sofort und nicht erst nach Minuten!
Von mehreren Schneewanderungen bei den Pfadfindern kannte er diese völlige Stille. Sie war deshalb beängstigend, weil ein Mensch in der Zivilisation nie eine
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