Niedergang
Stellen lag.
André schielte hinüber. Gleichermaßen traurig und verärgert kam er zum Schluss, dass das Einzige, was ihm an der Wanderung nicht gefiel, Louise war. Beim Wandern hatte er seine innere Ruhe, ging ihm, wie man sagte, das Herz auf. Allein Louise trübte seine Freude, indem sie ständig herummeckerte. Nicht länger wollte er auf sie Rücksicht nehmen. Seine Geduld war aufgebraucht.
Mit zwei Metern Distanz zwischen sich saßen sie da, halb voneinander abgewandt, als hätten sie sich nichts mehr zu sagen.
» Weiter? « , fragte André, als es Zeit war.
» Ja, geh nur. «
» Gut, gehen wir. «
André voraus, betraten sie den Kamin. Es handelte sich um einen schmalen, menschenhohen Tunnel im Felsen, der steil aufwärtsging, teilweise mit Stufen, teilweise ohne. Links und rechts boten Stahlseile Halt für die Hände, an ihnen konnte man sich hochziehen, wenn eine besonders steile Stelle dies erforderte. Man hätte hinunterfallen können oder wohl eher -rutschen: wegen der schützenden Wände vermutlich ungefährlich, auch wenn dieser Schacht Anfängern Angst machen konnte.
Louise schritt dicht hinter ihm her. Sie stiegen durch den Kamin hoch wie Höhlenforscher. Der Untergrund war von Feuchtigkeit dunkel verfärbt; doch zu wenig Wasser war da, als dass es ihnen hätte entgegenfließen können, wenn sich auch in kleinsten Mulden Seen gebildet hatten, nicht größer als Augen oder offene Münder. Wieder Tritte, wieder mussten sie sich am Seil hochziehen, das war bequemer als auf allen vieren zu gehen. Der Kamin war wie ein Lift; hier machten sie auf kurzer Strecke viele Höhenmeter. Die kühle und feuchte Luft roch nach Felsen. Oben sahen sie nichts, kein helles Loch, aber linker Hand gab es ab und an Löcher, durch die sie das Panorama erblickten. Bestimmt hatte Louise so etwas noch nie erlebt.
Nach fünf Minuten im Kamin, sie war stets dicht hinter ihm gegangen, blieb sie auf einmal stehen.
» Ich kann hier nicht durch « , sagte sie unvermittelt.
» Wie? «
» Lass uns umkehren. «
Die Strecke sei lediglich fünfzehn Minuten lang, ein Drittel hätten sie bereits geschafft, rechnete André vor. Er war von Louise genervt, blieb jedoch ruhig, wollte nicht, dass sie auf stur stellte.
» Bis jetzt geht es doch gut– nur noch ein paar Meter! Oben ist es schön, du wirst sehen, dort oben sieht alles ganz anders aus. «
» Ich kann nicht « , sagte sie.
Er fand diese Aussage albern. Er lächelte und klopfte Louise auf die Schulter.
» Nimm die Enge mit Humor! Oder hast du ein Geburtstrauma? «
Mit Tränen in den Augen wandte Louise sich ab und begann mit dem Abstieg.
» He! « , rief er. » Was machst du? «
» Siehst du doch. Ich will hier raus! «
» Verdammt « , sagte er, » jetzt stell dich nicht so an. Oben geht es auch hinaus. «
Er tat einige Schritte und fasste sie an ihrem Rucksack, sodass sie stehen bleiben musste, griff nach ihrer Hand, die sie ihm entwand.
» Also wirklich « , sagte er, » wir sind nun den dritten Tag unterwegs. Wir sind kurz vor dem Ziel. Und du willst wegen diesem kleinen Kamin aufgeben? «
Louise wollte nach unten. Sagte, vor dem Eingang des Kamins könnten sie alles besprechen.
Mit vor Ärger zusammengebissenen Zähnen folgte er ihr; er wollte sie hier drin nicht festhalten, aber für ihn war klar, dass er gleich wieder durch den Kamin hochgehen würde, mit oder ohne Louise. Er verbiss sich in böse Gedanken, kam zum Schluss, dass » ohne Louise « wahrscheinlicher sei, nahm diese Variante hin, als sei sie bereits Tatsache, freundete sich gar mit ihr an, empfand sie zunehmend als die bessere Lösung. Niemals würde er jetzt mit Louise den Heimweg antreten– ohne oben auf dem Gipfel gewesen zu sein!
» Ich will nicht mehr hoch « , sagte Louise, als sie unten vor dem Kamineingang standen.
André schwieg.
» Wir könnten diesen Weg nehmen « , sagte sie und zeigte auf einen Pfad, der auf der Südseite hinunterführte. » Da kommt man schnell in tiefere Lagen, und es gibt einen See, in dem man baden kann. «
André wusste von diesem Weg und vom See; beim Studium der Karte hatte er einmal, noch im Dezember, diese Variante in Betracht gezogen. Doch er hatte möglichst weit hinauf und für einmal keinen See gewollt. Er wusste: Gab es einen See, war Louise nicht mehr zu halten; sie würde baden wollen und nicht wandern.
» Woher weißt du das? « , fragte er.
Sie habe sich die Karte angesehen, sagte Louise. Um den See herum gebe es Wiesen und Wälder,
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