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Niedergang

Niedergang

Titel: Niedergang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roman Graf
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seinen Körper zu nehmen, konnte ihn ausbeuten, über die eigene Grenze hinausgehen.
    Seit der Durchquerung des ansteigenden Schneemeers ging es nicht mehr darum, taktisch sauber, in schöner Eleganz zu wandern– er musste hoch, egal wie!
    Was aber erhob sich da vor ihm? Ein steiler Berghang, der sich von den bisherigen steilen Passagen dadurch unterschied, dass Schnee lag. André wusste nicht recht, wie er hinaufgelangen sollte, bestimmt war es rutschig. Und wohin genau sollte er gehen? Die auf Felsen gemalten rotweißen Wegmarkierungen waren längst nicht mehr sichtbar, was beim Schneefeld nicht schlimm gewesen war, da er den Berggipfel hatte sehen können. Nun jedoch, am Fuße dieser Erhebung, die irgendwann zum Gipfel des Riesenberges führte, fehlten die Distanz und somit die Übersicht. Es ging hinauf– aber wo musste er lang, um nach zwei, drei oder vier Stunden zu seiner Kletterwand zu gelangen? Selbstverständlich war ihm die ungefähre Richtung bekannt, zur Sicherheit schaute er noch einmal auf der Karte nach; ob er sich jedoch wirklich auf dem Weg befand, wusste er nicht. Wenn er nicht aufpasste, bestand die Gefahr, dass er langsam, aber in zunehmendem Maße von diesem abkäme und sich schließlich von der falschen Seite her der Bergspitze näherte– falls er nicht vorher abstürzte!
    Vielleicht konnte der Gipfel auch von anderen Seiten bestiegen werden, aber nur von Kletterprofis, wie er vermutete, und auch unterhalb dieser Kletterpartien war der Berg auf diesen Seiten steiler. Er musste nur einmal ins Rutschen kommen oder das Gleichgewicht verlieren…
    Und obwohl hier oben der Berg stark verwinkelt war– kleinflächig, mal flach, mal senkrecht abfallend mit Nischen, Brutstätten für Vögel–, musste jederzeit mit Lawinen gerechnet werden, keinen großen, dafür waren die Hänge zu klein, aber er machte sich nichts vor: harmlos waren auch solche Lawinen nicht. Selbst eine minimale Schneemenge konnte, ins Rutschen geraten, eine erhebliche Kraft entwickeln und wenige Meter weiter, im nächsten Tälchen, beim Aufprall sich so stark zusammenpressen, dass ein Mensch darin wie einbetoniert und unfähig war, sich mit Armen und Beinen zu befreien.
    Es galt folglich, auf eine erholsame Pause zu verzichten, auf Zeit zu wandern, Tempo zu machen, gleichzeitig jedoch mit großer Vorsicht auf die Richtung des Weges zu achten und auf keinen Fall eine Lawine loszutreten oder gar abzustürzen.
    Wie bei den Pfadfindern gelernt, lief André nach Kompass: Er visierte eine auffallende Form im Gelände an, die auf seiner Richtung lag, einen kleinen Bergspitz, ein kantiges Türmchen, das sich an der Seite des Berges erhob, maß den Grad zum Nordpol, legte den Kompass auf die Karte und sah, auf welcher Linie er sich befand. Diese Linie schnitt sich mit der Begrenzungslinie des Schneefeldes, wo der Berg sich erhob. Der Schnittpunkt beider Linien war sein aktueller Standort. Er stand richtig, war auf dem Weg.
    Also nahm er das Erklimmen des Türmchens in Angriff. Er musste es aber gar nicht ganz erklimmen, lediglich zu ihm hingelangen: das Türmchen war nun die rotweiße Wegmarkierung.
    Wenn Louise mitgekommen wäre, hätte er ihr dies erklären können. So zu wandern war anspruchsvoller, interessanter, und das hatte er ihr doch vermitteln wollen! Aber sie hatte kein Interesse, ging lieber gemütlich baden und aß ein Eis…
    Zögerlich, abtastend tat er die ersten Schritte in den Hang, als beiße er vorsichtig in ein Stück hartes Brot. Er rutschte sogleich aus, und im Schnee blieb eine Form, die an eine Skisprungschanze im Miniformat erinnerte. Wollte er Halt, musste er mit der Fußspitze richtig in den Schnee hineintreten. Das tat weh, an dem kleinen Zeh mit der Blase! Doch nur so kam er hinauf, ohne sich mit den Händen festhalten zu müssen, was ein erheblicher zusätzlicher Kraftaufwand gewesen wäre.
    Um ihn herum endloses Weiß. Aufsteigendes Weiß direkt vor ihm, entferntes Weiß, wenig dunkler, rechter Hand an einem Hang, der im Schatten lag, unter ihm, bereits einige Meter, das ruhige Weiß des Schneemeeres– wie eine gleichmäßige Wolke.
    Allein der Himmel strahlte in schönstem Blau, durch die Gletscherbrille grau, aber André blinzelte manchmal an den Brillenrändern vorbei; ein sommerliches Blau, dasselbe wie in Berlin oder im Süden, irgendwo an einem Strand. Am Meer. Wie sehr wünschte André sich das: im Sand zu liegen, einem Verkäufer, der ebenso gemütlich wie eifrig an den Badegästen vorbeiging, sie

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