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Niedergang

Niedergang

Titel: Niedergang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roman Graf
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früher allein auf dem Lebensweg.
    Er versuchte, über seine pathetischen, ja hysterischen Gedanken zu lachen. Er war ein großer Dummkopf.
    Als er die Stelle, bei der sie umgekehrt waren, erreicht hatte, fasste er Mut. Es war unklug und kindisch, sich von Emotionen leiten zu lassen; einzig der scharfe Verstand zählte, würde ihn sicher nach oben und wieder nach unten zu Louise führen. Denn die Bezwingung eines Berges war nur erfolgreich, wenn man vom Gipfel auch wieder herunterkam. Hinauf auf den Gipfel– das war nur der halbe Weg, die halbe Aufgabe. Kraft und Verstand mussten auch für den Abstieg reichen. Die Belohnung waren Louise und ein vergnüglicher Tag am See mit einem ausgiebigen Essen im Restaurant, das gerne teuer sein konnte, das würden sie sich gönnen.
    Von links drang nun mehr Licht in den Kamin, auf Schulterhöhe war die Seite einen Kopf breit offen, und dieser Aussichtsstreifen zeigte die ganze Weite der Berglandschaft, das verspielte Zackenmeer und im Vordergrund zwei Riesen, kleiner jedoch als Andrés Berg, deren mächtige und scharfe, wie abgeschlagene Flächen im Schatten standen, auf ihnen Schnee, der gräulich-weiß ein wenig leuchtete.
    Vor einer brusthohen Erhebung blieb André stehen, um Atem zu schöpfen. Er sah die Luft, die er ausatmete, hochsteigen. Von seiner Zeit bei den Pfadfindern wusste er, dass man den Atem nur sah, wenn die Temperatur weniger als zwölf Grad betrug. Es war frisch. Vor allem hier im Kamin. Er fror an den Händen, die Finger waren klamm. Vermutlich war es weit kühler als zwölf Grad; er schätzte drei, vielleicht noch weniger. Das Wasser am Boden rann nun herunter; keine eisigen Stellen, nirgends.
    André nahm die Erhebung, zog sich am Stahlseil hoch, setzte die rechte Fußspitze in einen Tritt– vielmehr eine Ritze!– und rutschte ab, schlug mit dem Knie gegen den Felsen. Das tat weh, war aber nicht weiter schlimm. Schon war er oben, mithilfe des schmerzenden Knies, das er in einer kleinen Mulde positioniert und sich so hochgedrückt hatte.
    Eine gewisse Unheimlichkeit hier drin im Kamin konnte schlecht abgestritten werden. Aber was war mit » Unheimlichkeit « gemeint? Das war ein kindliches Gefühl und hatte nichts mit dem Verstand zu tun. Der Verstand sagte ihm, dass er im Kamin in größerer Sicherheit war als draußen, wo Steinschläge, Blitze und Lawinen drohten und wo er wegen eines unachtsamen Schrittes abstürzen konnte.
    André saß auf dem Stein, ließ die Beine herunterhängen und ruhte wegen des Knies einen Moment lang aus. Schon wurde ihm kalt; er nahm die Jacke aus dem Rucksack, zog sie an. Die Wärme war ihm wie ein Bett. Ihm schien, dass seine Kräfte viel schneller nachließen, seit Louise nicht mehr bei ihm war.
    Er musste weiter. Der Weg, der noch vor ihm lag, konnte beschwerlich sein, vielleicht seine Möglichkeiten übersteigen, je nach Wetter und Schneemenge. Jetzt fragte er sich, weshalb er sich diese Aufgabe zugemutet, dieses Vorhaben aufgebürdet hatte.
    Ohne weiter nachzudenken, marschierte er los. Je entschlossener er ging, je weniger Pausen er einlegte, je weniger er zögerte, desto schneller kam er an das Ziel. Er hielt sich nicht mehr nur am Stahlseil fest, sondern stieß sich auch mit den Innenflächen der Hände am Felsen ab, setzte die Fingerkuppen in kleine Spalten, machte große oder kleine Schritte, ganz wie es der Steigung entsprach; er passte sich ganz dem Weg an, befolgte sein eigenes Erfolgsrezept, tat das, was ihn auszeichnete: die Fähigkeit, eins zu werden mit der Natur.
    Endlich dachte er nicht mehr nach; wie Rauch stieg er den Kamin hoch. Es gelang ihm sogar, auf diesem oft treppenartigen Weg einen Trott zu finden, so, wie wenn er in einem Treppenhaus in die vierte oder fünfte Etage hochmusste und mit großer Geschwindigkeit zwei Stufen auf einmal nahm, weil das weniger Kraft brauchte als gemütlich Stufe um Stufe hochzutrippeln. Er stürmte durch den Kamin. Bei großen Tritten umfasste er mit der Hand das jeweils gebeugte Knie, als könne er ihm so mehr Stabilität geben– nicht, dass es unter dem Gewicht seitlich ausbräche.
    Linker Hand war der Aussichtsstreifen verschwunden, der Kamin so dunkel geworden, dass André gerade noch genug sah, aber langsamer gehen musste. Die Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit. Schon ging es besser. Die Erstürmung des Berges wurde wieder aufgenommen– oder die Flucht. André wusste nicht, ob er bloß einen Gipfel bestieg oder von Louise fortging.
    Die Viertelstunde, die

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