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Niedergang

Niedergang

Titel: Niedergang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roman Graf
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ansprechend, sie anlächelnd, ein Stück Kokosnuss abzukaufen, kaltes Wasser zu trinken, unter einem Sonnenschirm neben Louise zu dösen.
    Doch er steckte im Berg fest. Allein. Mit den kleinen Schritten, die er tat, kam er nicht schlecht voran, zwar äußerst langsam, aber gleichmäßig, ohne die Anstrengung großer Schritte, dafür ging dieses kurze gänsemarschartige Getrippel auf den Fußspitzen, die in den Hang getreten wurden, in die Wadenmuskeln. Verhärteten sie sich? Er wollte es nicht wissen, ging den Weg weiter, seinen Weg, den er, wie er glaubte, zu gehen hatte.
    Nach einer guten Stunde erreichte er das Türmchen; längst war das T-Shirt nass geschwitzt. Er trank Wasser aus der bald leeren Flasche, füllte sie mit Schnee, was eine schlechte Ausbeute darstellte. Doch Eis, wenn er irgendwo welches hätte abbrechen können, schmolz nicht so schnell.
    Gewissenhaft studierte er die Karte, und dabei verfiel er für einen Moment in eine vollkommene innere Ruhe. Alles, was er auf diesem letzten Stück der Wanderung erreichen würde, fast alles, was ihm zustoßen würde, hatte mit dieser Karte zu tun; sie gab ihm Sicherheit. Wohl kein Land stellte so genaue Wanderkarten her wie die Schweiz; die Schweizer Wanderkarten waren ein Kunstwerk, nicht nur ästhetisch, sondern auch wegen ihrer Exaktheit ein Genuss. Jede Erhebung, Ausbuchtung, jeder Graben war eingezeichnet; als geübter Kartenleser brauchte man weder Wege noch Wegweiser, man konnte sich allein am Gelände orientieren. Gab es eine kleine Bergspitze?– man fand sie auf der Karte wieder; standen da vier-fünf Bäume beisammen, die einen Miniwald bildeten?– sie waren eingezeichnet; hatte man von einem Gebüsch umwachsen einen Brunnen entdeckt?– das Zeichen für Brunnen musste auf der Karte zu finden sein; stieg der Weg an oder fiel er ab, machte er eine sanfte Wendung nach rechts oder einen spitzen Winkel nach links?– jede Kleinigkeit war festgehalten.
    André suchte sich ein neues Zwischenziel, eine neue rotweiße Wegmarkierung; das Einzige, was infrage kam, war ein schmaler Ausläufer, auf den er gelangen musste.
    Die Aussicht wurde immer grandioser. Zusammen mit dem schönen Wetter beinahe kitschig, was ihn irritierte, als könnte etwas nicht stimmen. Sosehr er hoch hinauf, am höchsten hinaufgewollt hatte– dass jetzt fast alle Berggipfel unter ihm lagen, machte ihm Angst. Schwindelte ihm? Aber nein. Spürte er, dass er die Welt unter sich gelassen, die Welt verlassen hatte?
    Er hatte hinaufgewollt, immer weiter hinauf. Doch was tat er, wenn es nicht mehr weiter hinaufging? Der Grund, auf dem er wanderte, der Berg wurde immer schmaler. Bereits war der Umfang des Gipfels abzusehen; mit Flügeln wäre er leicht zu umrunden. Irgendwann würde er oben angekommen sein und den nächsten Schritt machen wollen, aber da wäre nichts mehr, nur noch Luft. Dann führte nur noch eine Lufttreppe weiter hinauf. In eine andere Welt?
    Mit einem kurzen Schütteln des Kopfes tat André diese philosophischen Überlegungen ab. Oben angekommen, hätte er sein Ziel erreicht und könnte zufrieden mit dem Abstieg beginnen.
    Sorgen machte ihm die Sonne. Obwohl der Mittag und der erste Teil des Nachmittags längst vorbei waren, hatte sie an Kraft noch einmal zugelegt, weshalb er weiter im nass geschwitzten T-Shirt ging, durstig. Das Wasser wurde knapp. Er hätte einen Sonnenhut gebrauchen können; daran hatte er in Berlin nicht gedacht. Ein Sonnenstich war in seiner Situation, allein hier oben, nicht angenehm, konnte zu einer ernsten Gefahr werden. Sorgen machte er sich auch, weil es nicht nur warm, sondern zu heiß war, der Himmel zu blau, weil vielleicht später urplötzlich, wie in den Bergen üblich, ein Gewitter über ihn hereinbrechen würde. Das war keine schöne Vorstellung.
    Dachte er noch an Louise? Wollte er nicht zu ihr zurück, das Abenteuer abbrechen, seiner Freundin folgen? Hätte es nicht von besonderer Stärke gezeugt, dass er es nicht nötig hatte, den starken Mann zu spielen? Er spielte nicht den starken Mann, nein, das wollte er nicht, er war bloß unterwegs, ging seinen Weg weiter, den Weg, der für ihn bestimmt war. Und Louise– an Louise dachte er noch, dachte er beinahe ununterbrochen. Sie befand sich so weit von ihm entfernt, dass er sie nicht mehr erreichen konnte, selbst wenn er wollte. Als wäre sie nach Afrika verreist, nach Südamerika, China. Oder als hätten sie vor fünf, zehn oder zwanzig Wochen ihre Beziehung beendet und als dächte er

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