Niedergang
der Wind den Rucksack davon. Ohne Rucksack wäre er verloren.
Aber es kam nicht infrage, mit dem Rucksack hinaufklettern zu wollen. Einerseits verfügte er über keinerlei Erfahrung, was das Klettern mit einem Rucksack betraf, andererseits war die Route so anspruchsvoll, dass er sich nicht zutraute, sie mit schwerem Gepäck zu klettern, zumal sie im oberen Teil überhängend war. Den Rucksack hinaufzunehmen war ein Ding der Unmöglichkeit, geradezu selbstmörderisch.
André musste ihn unten lassen, wie ursprünglich geplant. Er wollte jedoch die warme Jacke anziehen und ihre Taschen mit einigen wichtigen Utensilien füllen, von denen er sich unter keinen Umständen freiwillig trennen durfte. Zwei-drei Getreideriegel zur Stärkung wollte er mitnehmen; für das Taschenmesser fand er oben jedoch keine Verwendung, auch den Kompass konnte er nicht gebrauchen, ebenso den Gaskocher, der ohnehin zu groß war. Andere, nützliche Dinge fielen ihm nicht ein.
Wozu waren ihm Kletterseil, Karabiner und Bandschlingen dienlich, wenn er niemanden hatte, der ihn sicherte? Auch diese Ausrüstung würde er, zusammen mit dem Rucksack, unten lassen, leicht in den Schnee eingegraben, damit selbst bei starkem Wind, bei einem Erdbeben oder wenn tausend Schneeameisen beschlossen, diese Güter wegzutransportieren, nichts passieren konnte.
Er durfte seine Sachen nicht verlieren, vor allem den Schlafsack nicht; ohne ihn würde er die Nacht nicht überleben.
Hier, hoch oben, war die Sonne noch zu sehen. Sie stand auf gleicher Höhe, leuchtete André an wie das Ende eines Tunnels. Aber sie sank herunter, nein, hinunter, sie sank von ihm weg in die Tiefe. Er konnte ihr dabei zusehen, und wenn er die anderen Berge anblickte– sie lagen alle bereits im Halbdunkel, Gräben und Täler verschwunden in finsteren Schatten.
Er musste sich beeilen. Sollte er nicht wenigstens den Schlafsack mitnehmen, für alle Fälle?
Nach kurzem Überlegen beschloss er, es nicht zu tun. Er konnte ihn auf die Schnelle nicht so gut am Rücken befestigen, dass er von ihm beim Klettern nicht behindert werden würde, und er durfte keine Zeit mehr verlieren. In zwanzig Minuten war es dunkel. Und er wollte heute noch hinauf, nicht erst morgen; in den frühen Morgenstunden, wenn die Glieder noch steif waren, kletterte es sich nicht gut. Außerdem würde der morgige Tag streng werden und zeitlich knapp; einige Herausforderungen warteten, etwa das erneute Durchqueren des rutschigen Feldes, auf dem sich eine Lawine lösen konnte. André mochte nicht daran denken, wie er da wieder hinübergelangen sollte.
Er zog die Jacke an, füllte eine Tasche mit Getreideriegeln und machte sich innerlich bereit für den Höhepunkt des Abenteuers, das kurze, ungesicherte Klettervergnügen. Er schätzte, dass er für den Aufstieg fünf bis sieben Minuten brauchen, oben zwei Minuten seinen Triumph genießen und für den Abstieg abermals fünf bis sieben Minuten benötigen würde. Danach ging vermutlich auch schon die Sonne unter.
Ohne Rucksack fühlte er sich leicht, geradezu schwebend, zweifelsfrei ein entscheidender psychologischer Vorteil. Er trat an die Wand heran, prüfte die Griffe, die sich von jenen in der Kletterhalle grundlegend unterschieden, handelte es sich doch eher um Kanten und Rillen als um richtige Griffe. Sie waren kalt, wenn auch schneefrei, frei von Eis. Er überlegte, wie er die ersten Meter am besten steigen sollte, um diese in einer kräfteschonenden, hohen Geschwindigkeit zu meistern. Früh genug würde er danach Pausen einlegen müssen und entscheiden, welche Griffe er wählte. Schließlich kannte er die Route nicht.
Der Beginn war nach seinem Geschmack. Gut sichtbar gab es auf Kniehöhe für die Füße zwei nah beieinanderliegende Tritte und wenig oberhalb ein streichholzschachtelgroßes Stück Fels, das herauslugte und an dem er sich mit Daumen und Fingern festklammern konnte. Danach folgte ein langes, glattes Stück, und erst weit oben, dem Anschein nach unerreichbar, befand sich eine erlösende Kante. Wie mit der freien Hand dort hinaufkommen?– das hätte sich jeder Anfänger gefragt.
André kannte ähnliche Kombinationen aus der Kletterhalle. Er trat auf die Tritte, hielt sich an der steinernen Streichholzschachtel fest, die sich nun auf Oberschenkelhöhe befand, zog sich nah an den Felsen heran, um nicht nach hinten zu kippen, drückte sich mit den Beinen hoch, während er mit Daumen und zwei Fingern das Nach-hinten-Kippen verhinderte, bewegte den freien
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