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Niedergang

Niedergang

Titel: Niedergang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roman Graf
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konnte man weder hinauf- noch hinuntersehen, man steckte halb im Berg, als sei man zwischen den oberen und den unteren Fangzähnen eingeklemmt.
    Linker Hand hingegen bot ein Ausläufer, eine Ausbuchtung, die weniger steil war, Schutz– zumindest bildete André sich das ein. Der Vorteil bestand darin, dass er lediglich zwei sehr steile Meter zu bewältigen hatte, dann jedoch sich auf dem Ausläufer befand und auf dem kleinen Grat nach oben zum Hahnenkamm steigen konnte.
    In den Hang hineingedreht, in eine Einbuchtung, die wie ein kleiner, auf der einen Seite offener Schacht war, gelangte André die zwei Meter hinauf, indem er den einen Fuß nach hinten drückte, den anderen nach vorn; die Arme benutzte er nur zum Ausbalancieren und für zusätzlichen Halt, sonst ging alles von den Beinen aus. Das Knie begann wieder stärker zu schmerzen. Er beachtete es nicht.
    Oben verlief der kleine Grat zuerst steil, jener Stelle ähnlich, an der er abgestürzt war. Er robbte, damit kein weiteres Unglück geschah, raupenartig hoch, wieder auf allen vieren, mit dem Oberkörper so nah am Schnee, dass er ihn berührte. Auf diese Weise konnte er nicht abermals das Gleichgewicht verlieren und nach hinten stürzen.
    Als er endlich mit beiden Füßen auf dem Hahnenkamm stand, schwindelte ihm einen Moment. Er fühlte sich wie auf einem Baukran. Der Kamm war schmal und lang; nun gab es, den Gipfel und zwei-drei Zacken ausgenommen, nichts Höheres mehr, die Berge, der Schnee, das Eis– alles lag unter ihm. Hinter ihm einige niedrige Zacken des Kammes, und etwa einhundert Meter vor ihm die größte Zacke, die sich hinter einem kleinen Plateau erhob: die Bergspitze mit der Kletterwand, deren Besteigung er seit Monaten geplant hatte!
    Eine Aussicht wie aus dem Flugzeug. Die Welt lag ihm zu Füßen. Tausende Jahre alte Berge, höchstes Gestein, Schnee und Eis, das nie schmolz, reichten nicht einmal an seine Zehen heran. Er hätte sich fallen lassen können, wie wenn man in einem Flugzeug saß, das über hellgrauen, verspielten Wolkengrüppchen dahinflog, die eine wattene, himmlische Sofalandschaft bildeten– sich fallen lassen für einen Moment der Selbstverdichtung.
    War er jemals so sehr er selbst gewesen?
    Wie im Traum glitt er auf die große Zacke zu, auf die höchste Zacke der Krone, die er nach ihrer Besteigung sein Eigen nennen konnte, wandelte ganz ohne Kraft hin zum Olymp, und es schien, als wären die Götter beiseitegetreten, um ihn einzulassen.
    Dort vorn war schon das Tor, die Wand, an der er schwerelos hinaufsteigen würde, er musste nur die Finger in die Griffe setzen, die Füße in die Tritte; alles Weitere ginge wie von selbst, der Himmel zog ihn an, half ihm nach oben. Er fühlte, wie nach dem furchtlosen Bestehen der gefährlichsten Passagen die Götter auf seiner Seite standen, ihm das letzte Stück erleichtern, geradezu versüßen wollten.

22 – Die Überwindung des Überhangs
    Götter! André blieb auf dem Boden der Realität. Er ließ sich nicht blenden. Sachte, sachte– erst einmal den alten Plan überdenken.
    In Berlin hatte er sich Folgendes überlegt: Hier, direkt vor der Kletterwand, wo ein kleines Plateau Platz genug bot, würden sie– Louise und er– ihre Rucksäcke deponieren. Erst stiege er hoch, genösse oben den Weitblick und käme wieder herunter, wobei Louise ihn mit dem Seil sicherte, dann stiege sie hoch und er sicherte sie. Danach bauten sie gemeinsam am Fuße der Kletterwand ein Iglu, genau so, wie er es bei den Pfadfindern in einem Winterlager gelernt hatte. Vor allem wegen Louise hatte er in Berlin den Bau des Iglus geplant; er war sicher, dass sie begeistert sein würde über die Wärme und die Heimeligkeit in dieser Eskimohütte.
    Nun war es anders gekommen. Er stand allein vor der Kletterwand, und allein machte ihm der Bau eines Iglus keinen Spaß. Er würde sich später einfach im Schlafsack in den Schnee legen. Der Schlafsack wurde gegen die Nässe von einer Goretex-Hülle geschützt, deren Nähte verschweißt und somit wasserdicht waren.
    Wie aber kam er– ohne Louise, die ihn sicherte– gefahrlos die Kletterwand hinauf, und was sollte er mitnehmen? Ohne Louise ließ er den Rucksack ungern unten, in dem Rucksack steckte alles, was er für sein Überleben brauchte. Den Rucksack abzulegen und einige Meter unter sich zu lassen, ihn aus den Augen zu verlieren, war ein erhebliches Risiko. Es konnte immer etwas geschehen, irgendetwas, das er nicht für möglich gehalten hätte: vielleicht wehte

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