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Niedergang

Niedergang

Titel: Niedergang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roman Graf
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schnell konnte es geschehen, dass man hier abstürzte, verloren ging; wie leicht war in dieser Kammwand der Tod.
    André hielt inne, hielt inne mit Nachdenken. Er wollte seinen Ängsten keinen Spielraum lassen. Gedankenlos ging er hinein in den Hang, hinein in den Kamm wie ins Meer. Schlug die Schuhspitzen in den Schnee, als wären sie Eispickel, trotz der Schmerzen am kleinen Zeh. Pflügte sich durch den alpinen Widerstand. Sprengte die Grenzen, die der Berg ihm zu setzen versuchte, haute sie weg mit seinem Zorn, stampfte sie nieder mit der Wucht seiner Energie. Wer verfügte hier über mehr Gewalt– der Berg oder André?
    Er kämpfte sich vor zur ersten Kante und nahm den zugeschneiten Pfad unter die Füße. Trotzig, mit einer Wut im Bauch, die sich gegen Louise, gegen den Schnee, gegen die Welt richtete, stürmte er nach oben– jetzt stürmte er den Gipfel! So sah ein richtiger Gipfelsturm aus!
    Ihm war egal, ob er sich wirklich auf einem Weg befand; die Felsen, auf die er steigen musste und die so groß waren, als handle es sich um Sessel für Riesen, gehörten kaum zum regulären Weg, falls es einen solchen überhaupt gab.
    Bei kleinen Einbuchtungen schlug er hinten die Schuhabsätze in den Schnee, vorn die Fingerkuppen, und drückte sich mithilfe der Körperspannung nach oben. Erhob sich ein neuer schneebedeckter Felsen vor ihm, blieb er stehen; er ließ sich einen Moment Zeit, schaute ihn sich von verschiedenen Seiten an, um zu prüfen, wo er am besten hinaufgelangte. Dann nahm er ihn. Entscheidend war die richtige Mischung aus überlegtem Handeln, Entschlussfreude, Geschwindigkeit.
    Was er hier vollführte, war meisterlich. Reif für einen Lehrfilm. Könnte Louise ihn jetzt sehen, sie würde staunen. Doch sie war nicht hier, sie hätte diese Herausforderungen auch niemals bestanden; zusammen wären sie erst gar nicht bis hierher gekommen.
    Nun wollte er, bei genauerer Überlegung, ihr von seiner Leistung auch nicht mehr erzählen, wollte nicht um seine Glaubwürdigkeit kämpfen, keine Beweise vorlegen. Er wusste, in welche Form er seinen Willen und seine Kraft in diesen Stunden brachte, und er hatte es nicht nötig, damit anzugeben, hausieren zu gehen.
    Und er sah den erlösenden, himmlischen Bergkamm näher kommen. Er schaffte es, und diese Tour war weit mehr, als er bei den Pfadfindern jemals unternommen hatte, weit mehr, als er jemals wieder in Angriff nehmen würde. Er wusste, dass er mit den Jahren würde kleinertreten müssen, war er doch nicht mehr zwanzig, nicht einmal mehr unter dreißig.
    Über ihm näherte sich der leicht gebogene Bergkamm wie eine Krone; André streckte den Hals. Dort oben angekommen, würde er sich auf dem Olymp befinden, auf seinem persönlichen. Ganz ohne Zeugen. Er hatte sie nicht nötig; sie waren ihm lästig.
    Längst lag der Rucksack schwer auf den Schultern, die zusätzlich gegen den Schultergurt drückten, wenn er nach oben greifen musste, um sich festzuhalten. Auch die Empfindlichkeit der Hüftknochen hatte zugenommen; selbst eine leichte Belastung schmerzte. Und das geprellte Knie zitterte zusehends, ein Ärgernis, gegen das nichts unternommen werden konnte. Er hatte keinen Verband, mit dem er für zusätzliche Stabilität hätte sorgen können.
    Noch zehn Meter. André stand im Hang, das letzte Stück wurde zunehmend steiler, erhob sich wie der Kamm eines Hahnes und bot keine Haltemöglichkeiten mehr. Er sah: Je weiter er hinaufgelangte, desto weniger gab es von den großen Felsen, die ihm Halt und Sicherheit boten, wenn er sie bestiegen hatte. Und die zahlreichen beckengroßen Steine, die unter dem Schnee nützliche Tritte gebildet hatten, waren verschwunden– glatt wie Glas war hier der Hang. Wie hinauf?
    André versuchte es. Schlug die fünf gespreizten Finger der einen Hand in den harten Schnee und die fünf der anderen, setzte mit den Füßen nach, richtete sich leicht auf, warf die eine Hand nach vorn, schlug die Finger ein, warf die andere nach vorn, was ein abermaliges Aufrichten des Oberkörpers bewirkte, und spürte, wie das Gewicht des Rucksacks ihn nach hinten zog. Er versuchte, die Finger wieder in den Schnee zu schlagen, der ihm schon entgegenkam– und stürzte rückwärts.
    Er fiel zwei oder drei Meter, landete auf dem Rucksack, blieb jedoch nicht im Schnee stecken, wie er gehofft hatte, sondern rutschte Kopf voran hinunter, der Rucksack im Schnee, der eine Menge davon wie eine Lawine mitriss. Den einen Arm ausgestreckt, versuchte er zu steuern, sich

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