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Niedergang

Niedergang

Titel: Niedergang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roman Graf
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zu drehen, sodass er wenigstens mit den Füßen voran hinunterglitt, doch gerade als die Drehung halb vollzogen war, stieß er mit dem Ellbogen hart auf.
    Endlich lag er still, zum Glück bei Bewusstsein. Vorsichtig hob er den Kopf, um zu prüfen, ob Gefahr drohte, von oben eine Lawine auf ihn zugesaust kam, ein Stein oder sonst etwas, doch nichts. Er lag in Sicherheit, gebettet im heimatlichen Schnee.
    Jetzt musste er Ruhe bewahren, mit klarem Verstand die Lage analysieren. Unmittelbar drohte keine Gefahr. Er lag auf festem Untergrund, konnte den Oberkörper aufrichten, ohne Angst haben zu müssen, wieder ins Gleiten zu geraten.
    Er schätzte, dass er fünfzig Meter nach unten gerutscht war. Als Erstes betastete er seinen Kopf, der weder schmerzte noch an einer Stelle blutete, machte mit dem Hals Bewegungen, prüfte die Beine, den Oberkörper, legte den Rucksack ab und untersuchte diesen nach Schäden, befühlte, so gut es ging, den Rücken, der von dem Rucksack geschützt gewesen war. Alles bestens. Er trank einige Schlucke, aß von dem kühlen Brot, das mehr und mehr austrocknete, bald hart sein würde.
    Allmählich erst setzte der Schrecken ein, der Schrecken, dem Tod nur knapp entronnen zu sein. Und er war hier oben ganz allein. Wie schwach man war, allein! Jetzt zeigte sich, hatte sich gezeigt, was Louise ihm wirklich war.
    André wusste, hatte seit Langem geahnt, dass er für sie nur einen Kompromiss darstellte, vielleicht gar einen mehr oder weniger guten, aber liebte sie ihn? Aus verschiedenen Aussagen, Nebensätzen von Louise hatte er herausgehört, dass der Anspruch an das Liebesglück so groß nicht war, man bei ihnen im Osten pragmatisch dachte: Träume, so etwas gab es nicht, das gehörte in das Reich der Fantasie! Mit einem Partner musste man auskommen, Grundlegendes sollte stimmen. Man nahm vieles in Kauf. Auch bei Louises Eltern war es doch so.
    Einen Moment lang fühlte er sich nicht nur allein, sondern kraftlos, erniedrigt. Aber dann riss er sich zusammen, kam wieder zu Sinnen und schulterte den Rucksack. Zuerst musste er den Aufstieg zurück zur alten Stelle schaffen, bevor er die Aufgabe, die letzten zehn Meter zu bewältigen, lösen konnte, und jetzt spürte er einen heftigen Schmerz im linken Ellbogen.
    Kein Blut, das sah er gleich, war er doch im T-Shirt unterwegs. Der Arm ließ sich beugen und strecken, wenn auch unter Schmerzen, aber der Ellbogen war bereits angeschwollen. André überlegte nicht lange, legte den Rucksack wieder ab und drückte den gebeugten Ellbogen in den Schnee, zur Kühlung.
    Mit der freien Hand nahm er die Jacke aus dem Rucksack und zog sie sich halb über. Gewissenhaft ließ er den Ellbogen statt fünf ganze zehn Minuten im Schnee; das war alles, was er tun konnte. Er musste weiter.

21 – Auf dem Hahnenkamm
    Dass er die fünfzig Meter, in normalem Gelände eine Nebensächlichkeit, hier eine beachtliche Kraftanstrengung, erneut zurücklegen musste, war ärgerlich. Doch André nahm es hin. Auch mit Louise stand er immer wieder an der gleichen Stelle, etwa, wenn sie ihre Tage hatte und gemeinsam verbrachte Zeit aus Vorwürfen und Übellaunigkeit bestand. Sie sprachen darüber, Louise war einsichtig. Doch einen Monat später dieselbe Situation. Dann zwei Wochen später wieder, obwohl sie da ihre Tage nicht hatte, aber Stress in der Arbeit. Er war es gewohnt weiterzumachen, als wenn nichts wäre; Augen zu, und bei Louise: Ohren zu und durch. Die fünfzig Meter Steigung hätte er auch noch drei- oder viermal genommen– Aufgeben, das kannte er nicht.
    Unterhalb der Stelle angekommen, wo er abgestürzt war, blieb er stehen. Er wusste, dass er mit Kraft allein nicht auf diesen heimtückischen Hahnenkamm hinaufkäme; er brauchte dafür seinen Kopf, seine Schlauheit. Es musste einen Weg, eine Lösung geben. Er begann, den Berg zu untersuchen, bewegte sich vorsichtig auf der Höhenlinie nach rechts und nach links; vielleicht fand er eine Stelle, wo der Aufstieg möglich war.
    André vergaß Louise und den Ärger, den er mit ihr hatte. Der Berg forderte, erfüllte ihn.
    Rechter Hand wurde das Gelände, je weiter er ging, weniger gut passierbar, und auch in einiger Entfernung– er schaute mit und ohne Gletscherbrille, um sich von den Schatten, von der Gleichmäßigkeit des Weißes nicht täuschen zu lassen– wurde es nicht besser, im Gegenteil: wie die Fangzähne eines wilden Tieres verlief der Hang ober- und unterhalb der begehbaren Linie konvex; befand man sich auf der Linie,

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