Niedersachsen Mafia
liebevoll
Ornamente eingepasst hatte, den Gliederungen und Rundbögen über den Fenstern,
dem Erker, der sich über die erste und zweite Etage erstreckte und oben durch
einen Balkon begrenzt wurde, den jemand mit Grün bepflanzt hatte … das würde
ihr Zuhause sein. Langsam ließ sie ihren Blick am Baum emporgleiten, der vor
dem Gebäude stand und dessen Krone fast bis an die Wand reichte. Er würde im
Wohnzimmer für ein wenig Dunkelheit sorgen, überlegte Frauke, aber das frische
Grün bot auch die Illusion, nicht mitten in der Stadt zu wohnen. Vielleicht
würde es im Sommer für angenehme Kühle sorgen, wenn die Sonne auf die Straße
knallte. Sie schmunzelte in sich hinein. Sicher! Sie lebte jetzt etwa
dreihundert Kilometer weiter südlich. Ob sich das schon klimatisch auswirken
würde?
Sie hielt das Bund in der Hand, das ihr der Vermieter ausgehändigt
hatte, und suchte nach dem passenden Schlüssel. Dann hielt sie einen in die
Höhe, betrachtete ihn und vermutete, er könnte zur Haustür passen. Bevor sie es
probieren konnte, wurde von innen geöffnet.
Ein älterer Mann, leicht gebeugt, stand ihr gegenüber. Er war einen
halben Kopf kleiner und musterte sie unter der Krempe seines leichten
Sommerhuts. Die eisgrauen Augen blinzelten unter buschigen Brauen hervor.
Zahleiche Falten durchzogen sein Gesicht und setzten sich am Hals fort, der in
einen offenen Hemdkragen überging.
Der Mann machte keine Anstalten, den Weg freizugeben.
»Und?«, fragte er mit einer brüchigen Seniorenstimme.
»Bitte?«, antwortete Frauke mit einer Gegenfrage.
»Zu wem wollen Sie?«
Sie war versucht, zu erwidern, dass es ihn nicht zu interessieren
habe. Andererseits war es sicher angenehm, Nachbarn zu haben, die auf ihre
Umgebung achtgaben. Viel zu oft war von seelenlosen Wohnsilos die Rede, in
denen man über Jahre nicht wusste, wer in der Nachbarwohnung lebte. Hier schien
es anders zu sein. Deshalb stellte sie sich vor.
»Frauke Dobermann ist mein Name. Ich bin die neue Mieterin.«
Sein Gesicht hellte sich auf. »Ah«, sagte er und reichte ihr die
Hand. »Rabenstein. Ich wohne über Ihnen.«
Sie ergriff die faltige Hand mit den zahlreichen Altersflecken auf
dem Rücken.
»Wann wollen Sie einziehen?«
»Morgen.«
»Das geht aber schnell.« Rabenstein lächelte und ließ seinen Blick
an Frauke vom Scheitel bis zur Sohle abwärtsgleiten. »Es freut mich, wenn hier
eine attraktive Frau einzieht.«
Frauke musste ein wenig irritiert dreingeblickt haben. Jedenfalls
zeigte Rabenstein die leicht gelblichen, ebenmäßigen Zahnreihen seines
Gebisses. »Sie müssen keine Sorge haben. Aber einer hübschen Frau darf man doch
ein Kompliment machen. Das haben wir in unserer Jugend gelernt.«
»Es freut mich, Herr Rabenstein. Auf gute Nachbarschaft.«
»Ich freue mich auch«, sagte der alte Mann und lächelte erneut. »Ich
will nicht aufdringlich sein, aber vielleicht gönnen Sie mir einmal das
Vergnügen eines kleinen Pläuschchens am Nachmittag. Bei einem Tee. In meinem
Alter hat man nicht mehr viele Bekannte.« Er zeigte mit dem Finger zum Himmel.
»Die werden nach und nach alle vom Herrgott abberufen. Wie meine Frau. Wir
waren zweiundfünfzig Jahre glücklich verheiratet. Dann wurden wir getrennt.«
Jetzt sah er ganz zum Himmel und nahm dabei einen versonnenen Ausdruck an.
»Noch will der Herrgott mich nicht haben, aber irgendwann werden wir uns
wiedersehen. Da oben.« Ein glückliches Lächeln strahlte auf seinem Antlitz.
Rabenstein hielt in seinem Lächeln inne. Das glückliche Gesicht
wirkte für einen Moment wie versteinert. Dann schwankte er kurz, kippte nach
vorn, fiel Frauke in die Arme und rutschte langsam an ihr herab zu Boden.
Frauke folgte der Blutspur, die knapp unterhalb des Kragenknopfes
ihrer Bluse begann, sich über ihre Brust und den Bauch bis zur Hose erstreckte
und auf Ober- und Unterschenkel nur noch hässliche Flecken hinterließ.
Alles war unheimlich schnell gegangen – der Knall, den Frauke für
einen Gewehrschuss hielt, das wütende Aufheulen des Motorrads und das Entfernen
des Fahrzeugs Richtung U-Bahnhof Sedanstraße/Lister Meile. Mit großer
zeitlicher Verzögerung vernahm sie das entsetzte Aufschreien von Passanten, die
arglos über die Lister Meile promenierten.
Frauke hatte blitzschnell versucht, dem flüchtenden Motorrad
hinterherzusehen, aber der Pavillon der Pizzeria versperrte ihr die Sicht. Sie
beugte sich zu Herrn Rabenstein hinab, der zusammengekauert zu ihren Füßen lag.
Er hatte immer
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