Niedertracht. Alpenkrimi
schaurige Wilderer- und Schmugglergeschichten erzählen ließen. Der Putzi verachtete so etwas. Das war nicht in Ordnung, am Entsetzen und am Nervenkitzel bereicherte man sich nicht. Auch die verwegenen Kleinbürgerhorden in der Gefolgschaft von Toni Harrigl streiften durch die Hügel und Auen, zum Teil jetzt schon roh und gewalttätig, urtümlich brüllend und ein klitzekleines bisschen lynchbereit. Er hatte einen dieser Züge beobachtet. Die wollten ihr Mütchen kühlen, die wollten sich profilieren. Der Putzi verachtete auch das zutiefst.
Seit aber dieser verdächtige Bergsteiger gefasst und eingesperrt worden war, schien es wieder etwas ruhiger im Talkessel geworden zu sein. Oder war es am Ende deshalb ruhiger geworden, weil er Jennerwein und seiner Psychologin einen Denkzettel verpasst hatte? Vielleicht brauchten die eine Verschnaufpause. Der Putzi musste jetzt ganz, ganz schlau sein. Vor allem nach dem Debakel mit diesem Holger. Er durfte zum Beispiel jetzt kein neues Opfer mehr ansprechen. Das hatte er aber sowieso nicht vorgehabt, er wollte sich in nächster Zeit voll und ganz auf das Beobachten des Kindes konzentrieren. Er blickte hinauf in die Wand. Ein herrlicher Tag. Das Blau des Himmels stand wie ein Ausrufezeichen in der Luft. Ein heißer Wind, der von Süden kam, fuhr ihm durch die Haare. Noch rührte sich nichts in der Nische. Es war federleicht gewesen, das Kind, als er es hochgehoben und durch den Wald getragen hatte. Es hatte selig geschlummert. Gemurmelt hatte es etwas in seinem Narkoseräuscherl, und er hatte ein kleines Liedchen dazu gesungen. Heile, heile Gänschen, was raschelt im Stroh. Träum was Schönes, kleines Schäfchen. Das Kind war so unschuldig wie die Gams damals. Mit der unschuldigen Gams hatte alles begonnen, und mit einem unschuldigen Engerl würde vielleicht alles enden.
Das Kind hatte er natürlich nicht mit der Faust niedergeschlagen oder mit den kleinen Sandsäckchen, um Gottes Willen, nein! Er hatte ihm auch keinen nassen Lappen ins Gesicht gedrückt, er hatte es nur schnüffeln lassen, da riech mal, was wird denn das sein, gell, das riecht gut! Und nach drei oder vier Schnappern war das Kind schon eingeschlafen, er hatte es durch den Wald getragen und durch die Wiesen, dann hatte er es sanft in sein Auto gelegt und war, immer schön langsam und bedächtig, hierhergefahren, in sein Königsversteck, in seine absolut perfekte Beobachtungsstation. Zuerst hatte er oben auf dem Zirler Berg, an der Aussichtsplattform, wo die Busse halten, mit dem Auto geparkt und hatte das Kindchen zu dem Versteck getragen, ganz Vater, der seinem Sprössling, seinem kleinen Wutziwutzi auch einmal einen Blick von oben ins Tal gönnen will, da unten wohnen wir, daher kommen wir, dahin werden wir wieder gehen. Dann hatte er es in die Höhle gelegt, und auch ein kleines Deckerl hatte er ihm mitgegeben, er war extra nochmals zum Jeep zurückgegangen. Spielsachen würde er später nachreichen, vielleicht auch eine kleine Brotzeit.
Jetzt brummte ein Hubschrauber über dem Zirler Berg, aber der Putzi sah gar nicht so genau hin, die Gestalt, die da mit dem Fernglas in der offenen Tür des Hubschraubers saß und herausstierte, hatte überhaupt keine Chance, etwas zu entdecken. Das Zirler Versteck lag nicht im Inneren des Talkessels, dem Kurort zugewandt, sondern außerhalb, es lag in Österreich. Millionen von Italienurlaubern hatten diese Wand schon einmal gesehen, bei der Rückfahrt, wenn sie gerade über den Brenner gebrettert waren. In Innsbruck mussten sie sich entscheiden. Sie konnten östlich über Kufstein und die staureiche Salzburger Autobahn weiterfahren, sie konnten aber auch die A12 nach Westen nehmen und über den Kurort nach Preußen oder Sachsen zurückschleichen. Das taten nicht wenige, und die wurden nach Innsbruck mit dem Anblick der imposanten Wand belohnt. Kurz vor der Ausfahrt Kematen lag eine kleine, mickrige Parkbucht, die steuerte eigentlich niemand an, denn man konnte von der Autobahn aus deutlich sehen, dass es im weiteren Verlauf der steil ansteigenden Seefelder Straße noch weitere, bequemere Parkmöglichkeiten mit tollem Ausblick gab. In dieser kleinen Parkbucht am Fuße des Berges stand der Putzi jetzt, und nur von hier, von dieser Stelle aus, war es möglich, mit Hilfe eines starken Fernglases einen Blick in den Käfig zu werfen, der dort oben in die Wand eingelassen war. Nur aus diesem Winkel konnte man den Stollen sehen, den er und sein Vater einst entdeckt
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