Niedertracht. Alpenkrimi
sich um und blickte zurück auf die Autobahn, die über den Brenner führte, Innsbruck und das Inntal durchschnitt und jetzt auf ihn zukam. Wie viele Autos rauschten hier in der Minute vorbei? Wie viele Tausende von Menschen hatten die Felswand schon gesehen, in der sein Engel lag! Sein Engel! Er war mit den Gedanken abgeschweift. Hastig griff er nach dem Fernglas und blickte hinauf. Das Kind schlief noch, es regte sich nicht. Es wird ihm doch gut gehen, dem kleinen Spatz?! Die Narkose wird ihm doch nicht geschadet haben? Ein bisschen beunruhigt war der Putzi jetzt schon.
Er blickte auf die Uhr. Er nahm sich vor, noch eine halbe Stunde zu warten, länger nicht, und dann nachzusehen, was da los war. Es war ja nicht so, dass immer alles glatt gelaufen war. Ein paar Mal war schon etwas schiefgegangen. Nichts so Gravierendes wie bei diesem Holger, dieser riesengroßen Enttäuschung, die er baldmöglichst vergessen wollte. Aber an eine andere Episode erinnerte er sich gern. Den Namen des Opfers wusste er nicht mehr, aber es war ein junger, sympathischer Mensch mit norddeutschem Tonfall gewesen. Er hatte ihn schon abgeseilt, schon umgezogen, schon in die Nische gebettet und angekettet. Als er ihn noch einmal betrachtete, spürte er, dass es doch nicht der Richtige war. Dieser junge, sympathische Mensch hatte den Grad der Reife noch nicht erlangt, das fühlte der Putzi. Er entschloss sich, ihn wieder zurückzubringen, umzuziehen und ihn neben den Wanderweg zu legen, um ihn dort erwachen zu lassen. Der Putzi lächelte, als er an diese Geschichte dachte. Irgendwo auf der Welt saß jetzt ein Mann, der sich keine Vorstellung davon machte, wo er einmal gewesen war. Einmal Paradies und wieder zurück. Vielleicht erschienen ihm nachts Bilder von der Geschichte. Vielleicht blitzte tagsüber manchmal eine Erinnerung auf. Vielleicht saß er am Fenster und erträumte sie sich, wenn der Abend kam.
Der Putzi richtete das Fernglas wieder hinauf. Das Kind oben war endlich wachgeworden und rieb sich die Augen. Der Putzi war schockiert. Warum um Gottes Willen weinte dieses Kind jetzt? Was fehlte ihm? Der Putzi schloss das Verdeck und startete den Motor des Jeeps. Er verließ den Parkplatz und bog auf die steil ansteigende Seefelder Bundesstraße. Er raste den Berg hoch, fuhr mit quietschenden Reifen auf den Busparkplatz und sprang heraus. Atemlos kam er am Eingang des Stollens an, hastig durchquerte er ihn.
»Hallo, kleiner Engel, brauchst keine Angst haben«, sagte er, als er sich in der vergitterten Nische über das Mädchen beugte, das bei seinem Anblick mit dem Weinen halbwegs aufhörte und nur manchmal gluckste und schniefte. Er zog ein Tuch heraus und trocknete ihr die Tränen ab. Er zeigte ihr den Teddybären und ließ ihn in der Luft herumwackeln. Das Mädchen beruhigte sich ein wenig. Er legte den Teddybären ab, denn auf den Hals des Mädchens hatte sich eine kleine Mücke gesetzt. Vorsichtig näherte sich der Putzi mit der Hand und zerdrückte sie zwischen zwei Fingern.
»Hat sie dich schon gestochen? Hast du deswegen geweint?«, flüsterte der Putzi leise und liebevoll. Er zerdrückte noch zwei, drei der Mücken, und das Mädchen hörte ganz auf zu weinen.
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aaaa, äää, bb, c, d, eeeeee, ff, g, hhhh, iiiiiiiiiii, jjjj, ll, oooo, öööööööööööö, rrrr, t, uuuuuuuuuuuuuuu, üü, z
Andachtsjodler, alphabetisch geordnet
Hallo! Hören Sie mich? Ich bin der böse Putzi und habe Sie in meiner Gewalt.
Undeutlich und verschwommen tauchten diese Worte aus seinem Gedächtnis auf. Es gab noch kein Gesicht dazu, es gab nur diese Wortfetzen. Putzi? Wer war Putzi? Manchmal schießen einem wirre Gedanken durch den Kopf. Vor allem im Süden. Er mixte einen Barracuda Shake, einen George Washington Slinger und einen Bacardi Special Spritz. Das waren momentan die drei Modegetränke im Ocean’s Club von Cefalù.
Ich bin der böse Putzi.
Er kannte niemanden, der Putzi hieß.
Er war ein hoch aufgeschossener, gutaussehender junger Mann, und er hob sich von den südländischen Barmixern deutlich ab durch sein flachsfarbenes, ostseegebleichtes Haar. Doch er mixte den Liver Snatcher und den Sex-in-the-refrigerator-Flip schon mit einer lässigen Eleganz, als wäre er einer der schwarzhaarigen Azzurris.
»Ja, hau nur ab, verschwinde!«, hatte sie ihm quer durchs Lokal nachgerufen. »Und lass dich nie wieder bei mir blicken!« Ansonsten hatte er mit dem alten, langweiligen Leben abgeschlossen – nur diese beiden Sätze
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