Niedertracht. Alpenkrimi
lag ein Mann auf einem Bett. Jennerwein wandte sich um und ging wieder ein paar Schritte. Das Gesicht des liegenden Mannes verblasste langsam in seinem Gedächtnis. Hätte Jennerwein gewusst, dass dieser Mann da drinnen direkt zur Lösung des Falles führte, hätte er sich nicht umgedreht. Aber hinterher ist man natürlich immer klüger.
Der Mann drinnen auf dem Bett war der ehemalige Bienenzüchter Alois Schratzenstaller. Nicht dass er müde gewesen wäre, er war vielmehr in das bestsortierte Bettengeschäft des Kurortes gegangen, um ein neues Ruhelager auszuwählen. Momentan testete er gerade das Modell
Träumereien
, er drehte sich in alle möglichen Lagen.
»In dem hier schläft sichs ganz gut, glaube ich«, sagte Schratzenstaller zur Verkäuferin, die ein unsicheres Gesicht machte. Dieser Schratzenstaller war ein komischer Kauz, ein ortsbekannter Querulant, der sich mit allen und jedem anlegte, vor allem aber mit Behörden. Formblätter und Amtsschreiben brachten ihn zur Weißglut, öffentliche Stellen waren seine bevorzugten Sparringspartner. Es ging das Gerücht, dass er einen Großteil seines reichlichen Familienerbes für Strafzahlungen, Mahngebühren und Rechtsanwaltskosten verplempert hatte. Er nahm nicht am Vereinsleben teil, ließ sich selten im Ort sehen, aber jetzt stand dieser Schratzenstaller, der Bienenzüchter, Insektenkundler und Behördenschreck, leibhaftig vor ihr.
»Ich nehme die Träumereien«, sagte der unwirsch. Er ließ sich Bett und Matratze ins Auto laden und fuhr heim.
Er hatte durch das Schaufenster draußen auf der Straße einen Mann mittleren Alters gesehen, einen gutaussehenden, nachdenklichen, aber auf irgendeine Weise unscheinbaren Mann, der flüchtig hereingeblickt hatte. Der Mann hatte ihn an Hugh Grant erinnert, an diesen britischen Schauspieler, der in
Vier Hochzeiten und ein Todesfall
mitgespielt hatte. Der Mann da draußen hatte genau so einen Blick gehabt. Einen etwas traurigen, zerstreuten Blick. Alois Schratzenstaller lebte zurückgezogen, außer
Tracht und Wabe
, dem Organ der real existierenden Imkereiwirtschaft, bezog er keine Zeitung. Darum wusste er nicht, dass das da draußen Kommissar Jennerwein war. Zu Hause angekommen, riss er einen Brief von der Gemeinde auf, der im Postkasten lag. Als er
Letzte Mahnung
las, warf er ihn in den Papierkorb. Letzte Mahnung war noch nicht Androhung eines Zwangsgeldes. Er schraubte seine
Träumereien
zusammen, legte sich hinein und entspannte sich. Er konnte eigentlich auf ein erfülltes Leben zurückblicken, wie es so schön hieß. Er war ein erfolgreicher, angesehener Imker gewesen, wie sein Vater und sein Großvater, sie hatten
die
Werdenfelser Imkerei aufgebaut, die Imkerei Schratzenstaller mit dem weithin bekannten Honig (»Keiner ist süßer« bzw., mit einer neuen Werbeagentur, »Da bleibst du dran kleben«). Sie hatten einen Haufen Angestellte gehabt und einen Vertrieb bis hinauf nach – nicht gerade Finnland, aber doch Niederbayern. Das Geschäft war gut gelaufen, so gut, dass er ein paar Nachbargrundstücke erworben hatte, so dass der Imkerhof Schratzenstaller schließlich auf fast zwei Hektar angewachsen war. Das Grundstück und die Gehöfte befanden sich noch in seinem Besitz, die Imkerei hatte er vor ein paar Jahren aufgegeben, es lohnte sich nicht mehr. Er lebte jetzt als Privatier, äußerst zurückgezogen. Ihn interessierten die kleinen wuseligen Viecher mehr als das Geschäft. Vor allem hatte ihn seit jeher der Schwänzeltanz fasziniert, diese eigenartige und noch weitgehend unerforschte Sprache der Hautflügler. Gut, der alte Ritter von Frisch hatte das alles schon vor fünfzig Jahren erforscht, aber eigentlich nicht so richtig, fand Schratzenstaller. In einer Zeit, in der jeder stinkfaule Physik-Grundkursler die letzten Spin-Quark-Quanten-Ψ-Neutrino-Geheimnisse des Atomkerns kennt, gab es immer noch viele unerforschte Bereiche des Lebens: den Föhn, die linke Hirnhälfte, die niederbayrische Mentalität. Und dann eben die Bienen mit ihren eigenartigen Begrüßungsritualen. Hatten die Tänze am Eingang des Stocks überhaupt etwas zu bedeuten? In regelmäßigen Abständen behaupteten aufgeregte Wissenschaftsjournalisten, dass das alles ganz anders sei, dass die Bienen nämlich nur zu ihrer eigenen Gaudi herumtanzen würden. Schratzenstaller hatte diese Liebe zum Kleinsttier von seinem Vater geerbt. Der alte Schratzenstaller hatte die Gewohnheiten der schweigsamen Geschöpfe jahrelang studiert –
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