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Niedertracht. Alpenkrimi

Niedertracht. Alpenkrimi

Titel: Niedertracht. Alpenkrimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Maurer
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sicher.«
    »Wie wäre es mit
Vielleicht Hans

    »Kann man ihn nicht einfach oben lassen?«
    »Du meinst, dass wir ihn wieder in die Felsnische legen sollen?«
    »Ja, vielleicht wollte er das. Ich habe mich erkundigt. Viele Völker beerdigen ihre Toten nicht, sondern machen das anders. Es gibt Indianerstämme, die legen ihre Verwandten auf die Bäume.«
    »Wirklich?«
    »Ja, da gibt es eigene Wälder dafür. Und da gehen die dann durch und rufen auf die Bäume hinauf: Hallo Tante Gertrud, hallo Onkel Klaus!«
    »Glaubst du denn, dass unser Hans freiwillig zum Sterben dort hinaufgekraxelt ist?«
    »Es sieht doch so aus, als ob er nicht entdeckt werden wollte, er hat noch eine letzte Mahlzeit unten gegessen, etwas Feines, für einen besonderen Anlass und dann hat er sich bequem hingelegt.«
    »Du glaubst nicht an ein Verbrechen?«
    »Nein«, sagte Michelle spitzbübisch. »Ich glaube, dass es eine Liebesgeschichte war, die einfach nur tragisch ausgegangen ist.«
    O friedfertige Jugend, dachte Jennerwein. Sie will in dem hässlichen Vorfall eine Romanze sehen. Er aber hatte nicht das Gefühl, dass es sich hier um eine Liebesgeschichte handelte. Ganz im Gegenteil.

14
    Steiles Felsenufer. Das Meer nimmt den größten Teil der Bühne ein; finsteres Wetter; heftiger Sturm. –
    Matrosen
(während der Arbeit).
    Johohe! Hallajo! Hohoha! Hallojo!
    Ho! Ha! Ha! Ja! Hallajo! Hallaha! Hallajoha!
    Richard Wagner, Der fliegende Holländer, Erster Aufzug
    Die Archicnephia klappte ihr Fahrgestell ein und zog es dicht an den stahlharten Rumpf, dann schoss sie fast senkrecht in die Höhe. Nach wenigen Sekunden erfasste sie ein scharfer Windstoß, und sie ließ sich in die dickflüssige Luft fallen. Unter ihr breitete sich ein Meer von blühenden Zitronenbäumen aus, und sichtbehindernde Wolken aus Blütenpollen trieben dahin. Doch sie ließ sich nicht davon beirren, sie flog nicht auf Sicht. Sie erhöhte die Schlagzahl auf fünfhundert Schwingungen pro Sekunde und hielt Kurs auf Ost-Nordost. Die Wolken rissen auf, die Sonne kam heraus, und innerhalb von wenigen Sekunden schien die Luft um ihren Chitinpanzer herum zu brennen. Ihre Tracheensysteme glühten, und ihre Triebwerke kochten. Doch sie orientierte sich weiter strikt an dem großen goldenen Anhaltspunkt dort oben.
     
    Sie war eine ausgewachsene Archicnephia, eine aus der artenreichen Familie der Kriebelmücken, ein saugendes und stechendes Weibchen. Die Männchen waren Vegetarier und ernährten sich ausschließlich von Blütennektar, sie hingegen benötigte zur Entwicklung der Eier zusätzlich täglich eine warme Blutmahlzeit. Momentan zitterten ihre Antennen wankelmütig, denn dort unten im Tal hatte sich ein herrliches Pheromongebirge aufgetürmt, eine olfaktorische Herausforderung, fast eine Zumutung an die Sinne: Duftschwaden von frisch gemähtem Gras, würzig-pikante Geruchsschauer blühender Kapernsträucher, die stoßweise pulsierende Witterung des faulsumpfigen Flusses. Und immer wieder die Dünste der verschiedensten Säugetiere, herrliche Verheißungen auf frisches, warmes, sprudelndes Blut. Sie roch fauligen Abfall und gammeligen Müll, wie eine Peitsche schlugen ihr die scharfen Gerüche gärender Essensreste ins Gesicht: leckere Überbleibsel von blutdurchtränkten Eiweißfasern, der schimmelige Hautgout für verwöhnte Netzflügler, Schmackofatz aller Insekten. Sie war eine erfahrene Archicnephia, sie hatte im Laufe ihres langen sechswöchigen Lebens gelernt, die verschiedenen Säuger zu unterscheiden, sie roch einzelne schweißtriefende Pferde heraus, Ratten, Hunde, dünnhäutige Schweine und Esel. Und immer wieder Menschen. Diese Säuger mit ihrer millimeterdünnen, kaum behaarten Haut standen auf dem Beiß-, Sauge- und Speichelplan ganz, ganz weit oben. Sie konnte der Versuchung nicht widerstehen, sich zwei oder drei Faden tief hinunterzulassen, um kurz, aber heftig an den Ausdünstungen der Zivilisation zu schnuppern. Doch schließlich siegte das übergeordnete Ziel. Sie ließ sich nicht hinabziehen ins Tal der Sechsfüßlerträume, in den Delikatessenladen der Aasfresser. In ihrem stecknadelkopfgroßen Gehirn war kein Platz für überflüssige Gedanken, nur die wohlgeordneten Erinnerungen an Jahrmillionen von Flugstunden.
     
    Sie hatte ein Ziel, einen Plan, eine Mission – denn bugseits roch sie einen Feigenkaktus, dessen stechend scharfe Ausdünstungen ihre Art seit jeher anzogen. Es waren lediglich ein paar vereinzelte Moleküle, doch das genügte,

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