Niedertracht. Alpenkrimi
zumindest nicht sofort vermisst werden. Das schränkt den Opferkreis ein: Obdachlose, Illegale, schwer identifizierbare Asylbewerber.«
»Mit Verlaub gesagt: Beide Opfer sehen mir nicht gerade danach aus. Ein Filetsteak als letzte Mahlzeit, manikürte Fingernägel, Liebhaber klassischer Cellomusik –«
»Auf jeden Fall haben wir es hier mit keinem klassischen Serientäter zu tun, der auffallen will. Wir haben es mit einer Person zu tun, die morden will. Die beobachten will, wie es langsam mit einem Menschen zu Ende geht. Und wenn ich mir die Landschaft um uns herum ansehe, haben wir hier genau die passende Kulisse dazu.«
»Meinen Sie wirklich?«, sagte Ostler zögernd. »Wenn ich jemanden beobachten will, wie er stirbt –«
»– dann nehme ich ihn mit nach Hause«, fuhr Nicole fort, »sperre ihn in den vorbereiteten Partykeller und quäle ihn zu Tode.«
»Die Nachteile dabei: Ich brauche dazu ein möglichst alleinstehendes Haus«, sagte Stengele. »Je einsamer das Haus jedoch steht, desto mehr kann ich auf dem Weg dorthin beobachtet werden. Der Hinweg mit dem Opfer ist riskant, und vor allen Dingen: wohin mit der Leiche?«
»Ich gehe also besser in die freie Natur.«
»Genau. Ich suche mir ein stilles, einsames Plätzchen, fixiere das Opfer dort und suhle mich in dem schrecklichen Wissen, dass es qualvoll stirbt.«
»Das Wissen allein genügt mir jedoch nicht. Ich will auch noch zusehen. Und zwar tagelang.«
Der Vogel in der Baumkrone machte jetzt nicht KRCHAÁG , sondern so etwas wie PIWAARCH ! Vielleicht war es aber gar nicht derselbe Vogel.
»Das könnte das Weibchen des Gemeinen Blachrallenkauzes sein«, sagte Ostler.
»Eine Unterhaltung zwischen Eheleuten?«, sagte Nicole.
»Das ist das Perfide an diesem Plan«, fuhr Ostler fort. »Ich wähle mir einen Ort aus, zu dem das Opfer selbst hingeht. Und das ist? Der Berg! Der Berg ist einer der wunderbarsten Tatorte, die es gibt.«
Jennerwein nickte zustimmend.
»Der Meinung bin ich auch. Und wie Sie schon gesagt haben, Ostler: Seniorenerholung und Hochgebirgskletterei liegen im Werdenfelser Land nur ein paar Meter voneinander entfernt.«
Kräftige Schritte kamen durch das Unterholz näher. Es war Hansjochen Becker, der fleißige Spurensicherer mit den abstehenden Ohren und der arttypischen Vernarrtheit in Zahlen und Statistiken.
»Ein lauschiges Plätzchen haben Sie sich schon ausgesucht für eine Besprechung«, sagte er. »Wenn das der Harrigl wieder wüsste! – Hier, sehen Sie, ich habe Ihnen etwas mitgebracht.«
Er zog ein zerknittertes Blatt Papier aus der Brusttasche und reichte es Jennerwein. »Das ist gerade von der Vermisstenstelle des Bundeskriminalamts gekommen.«
Jennerwein las den Zettel laut vor.
»Die Tote ist mit hoher Wahrscheinlichkeit die seit vier Tagen vermisste Susanne Wieczorek, 32, Lehrerin, wohnhaft in Saarlouis. Sie hatte Streit mit ihrer Familie, ist mit unbekanntem Ziel abgereist, war ab da nicht mehr aufzufinden.«
»Ich will mich natürlich nicht in die höhere Philosophie der Ermittlungen einmischen«, sagte Becker. »Wir Spurensicherer sind ja nur kleine Wasserträger, die unbedeutende Informationen heranschaffen, die meist nutzlos und überflüssig sind.«
»Höhö!«, sagte Hölleisen. »Die frische Luft scheint Sie zu frechen philosophischen Exkursen anzuregen.«
»Ja, die frische Luft tut uns Spurensicherern manchmal ganz gut. Sonst vegetieren wir im Labor dahin, eingepresst zwischen Reagenzien, Haarfasern und Blutspuren, da erfährt man ja nichts von der spannenden detektivischen Welt da draußen. Aber jetzt im Ernst: Wie sind Sie denn nun auf die Frau in der Greininger-Wand gekommen?«
»Jedenfalls nicht durch das Fax, das vor vier Tagen bei uns im Polizeirevier eingetrudelt ist«, sagte Hölleisen. »–
Hallo Hölli, ein Tourist hat am Ettaler Manndl eine weitere, unbewegliche Person entdeckt
– das war blinder Alarm gewesen. Die Person war nicht in Bergnot, die hat einfach nur Brotzeit gemacht – und dann war sie weg. Heute, nach vier Tagen hat sich der Speitäubling, der unterirdische, endlich gemeldet, und wir müssen noch froh sein darüber, sonst würden wir jetzt noch nach ihm suchen. Nein, ein gewisser Herbert Heinlein hat uns, wenn auch auf verschlungenen Pfaden, zu der Greininger-Wand hingeführt. Das war ein ziemlich orientierungsloser Nürnberger, der zwar nicht mehr wusste, wo er sich befunden hatte, als er jemand in der Bergwand hatte hängen sehen, der sich aber
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