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Niedertracht. Alpenkrimi

Niedertracht. Alpenkrimi

Titel: Niedertracht. Alpenkrimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Maurer
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Er hatte heute im Gemüsegeschäft Altmüller wieder einmal ein paar Fünfziger gewaschen.
    »Haben Sie noch Senfkörner da, Frau Altmüller?«
    »Moment, ich schau mal.«
    »Nein, Sie müssen nicht extra in den Keller gehen.«
    »Das tu ich doch gerne für Sie, Herr Winterholler. Sie sind mir sympathisch, sie erinnern mich so an meinen Sohn. Sie sind ja auch im gleichen Alter.«
    »Ihr Sohn, soso. Wo ist er denn?«
    »Wenn ich das wüsste! Unterwegs ist er, der Hallodri. Wo genau, das kann ich Ihnen freilich nicht sagen. Wenn man ihn braucht, ist er jedenfalls nie da. Ach ja, Ihre Senfkörner. Was gibts heute denn Feines bei Ihnen?«
    »Ja, äh – Fischsuppe.«
     
    Und weg war sie, die Frau Altmüller. Jetzt lag ein Päckchen sauberes Geld auf Johnny Winterhollers Küchentisch. Von wegen Fischsuppe. Er hatte vor, diesen Packen heute Nacht noch in den Bergtresor zu bringen. Ja, richtig, heute Nacht, denn der letzte Zettel hatte folgende Anweisung enthalten:
    Achtung: Nachtklettertour!
    Start nach Einbruch der Dunkelheit
    Ziel: frei wählbar, aber nicht unter 1.800 Höhenmeter
    Rückweg soll noch vor der Morgendämmerung stattfinden
    Anweisung einprägen, Zettel vernichten!
    Er freute sich auf die vor ihm liegende Nachttour, denn er hatte sich etwas besonders Schönes ausgewählt. Schnell machte er sich bergfertig, er hatte alles, was er brauchte, griffbereit daliegen, er vergaß auch die Stirnlampe nicht. Den Zettel hatte er natürlich wie immer nicht vernichtet. Er steckte in einer Plastikhülle im Rucksack. Johnny Winterholler trank seinen bitteren Misteltee aus und verließ das Häuschen. Ein schöner romantischer Spaziergang war das, quer über die nächtlichen Felder,
die Ähren wogten sacht
, vorbei an schlafenden Kühen und Ziegenböcken, die auf Blumenwiesen dahindösten. Er spazierte quer durch das ganze Loisachtal, immer am Ortsrand entlang.
     
    Einige Holzstadel, die sich gegen die blaue Nachtluft scharf abhoben, warfen verschwommene Mondschatten auf die Felder. Warum hatte ihn Franz Hölleisen gefragt, ob er, Winterholler, die Leiche auf der Zugspitze entdeckt und gemeldet hatte? Irgendjemand musste das anscheinend getan haben. Aber von wo aus hatte der Unbekannte das Opfer gesehen? Von einer gegenüberliegenden Wand? Das war nicht möglich, denn der Schneefernerscharte gegenüber lag nur die Ehrwalder Ebene. Da hätte man schon ein Forschungs- oder Militärteleskop gebraucht, um die Wand zu beobachten. Die zweite Möglichkeit war, dass der Anrufer selbst in der Wand geklettert war und den Unglücklichen in der Nische entdeckt hatte. Aber die Schneefernerscharte war eine schwierige Wand, dafür kamen nur erfahrene Kletterer in Frage. Und die wussten, was es bedeutete, die Bergwacht zu rufen, die hätten sicher ihren Namen genannt. Die dritte Möglichkeit war die, dass sich der Täter selbst gemeldet hatte. Aber warum sollte er das tun? Und so lange nach der Tat? Winterholler wäre fast gestrauchelt und ausgerutscht – natürlich, ihm war noch eine vierte Möglichkeit eingefallen. Es gab immer vier Möglichkeiten. Alle Dinge auf der Welt konnte man von vier Seiten sehen. Die vier Elemente. Die vier Jahreszeiten. Die vier Temperamente. Die vier sephardischen Synagogen. Die fantastischen Vier. Der Weg wurde jetzt steiler. Johnny Winterholler stapfte dahin und überlegte. Die zwölf Apostel. Naja, nicht alles konnte man von vier Seiten sehen. Aber das Problem Schneefernerscharte schon, denn die vierte Möglichkeit war ein Gleitschirmflieger, der die Leiche entdeckt hatte. Einer mit einem Fernglas, der meinte, mit der Alarmierung der Bergwacht seine Pflicht erfüllt zu haben.
     
    Winterholler stapfte weiter. Dann war da auch noch der Mann, den er beobachtet hatte und den er Hölleisen als braver Staatsbürger am Telefon gemeldet hatte. Der Mann mit dem Liesegang-Fernglas. Könnte der etwas mit der Sache zu tun haben? Ein solches Fernglas war stark, aber nicht so stark, um von Ehrwald aus eine bewegungslose Leiche in der Wand zu erkennen. Winterholler nahm sich vor, diesen Mann, wenn er ihn nochmals treffen würde, anzusprechen. Oder ihm wenigstens nachzugehen, vielleicht sogar nachzuklettern. Irgendwie war ihm dieser Mann bekannt vorgekommen. Andererseits: Wozu sollte er das machen? Was ging ihn das an? Er hatte der Polizei genug geholfen.
     
    Oder etwa doch nicht? Er zog einen Mistelzweig aus der Hosentasche und kaute darauf herum. Johnny Winterholler war jemand, der weder zum braven Bürger noch zum

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