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Niedertracht. Alpenkrimi

Niedertracht. Alpenkrimi

Titel: Niedertracht. Alpenkrimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Maurer
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gespitzter, unbenützter Bleistift des Härtegrades sieben. Er nahm den Bleistift auf und begann mit einer Check-Liste.
     
    Wer hatte ihn in diese Lage gebracht? Wer hatte Grund, ihm so etwas anzutun? Erstens: Doblinger. Heinz Doblinger war ein unzuverlässiger Mitarbeiter gewesen, dem er vor ein paar Monaten gekündigt hatte. Er war ständig zu spät gekommen, ein paar Mal gar nicht erschienen, und er hatte sich ständig verrechnet. Aber war der unzuverlässige, flatterhafte Doblinger wirklich einer, der ihn wegen einer gerechtfertigten Kündigung in einer nepalesischen Bergwand schmoren ließ? Zweitens: Hagemann. Laura Hagemann. Die Chefin von Hagemann Systems & Solutions. Seine Hauptkonkurrentin. Ein öffentlicher, gutdotierter Auftrag, den er bekommen hatte, nicht sie. Der Auftrag war riesig gewesen, er wusste, dass sie sich mächtig geärgert hatte. Aber der Verdacht ihr gegenüber war lächerlich. Beide Verdächtigungen waren lächerlich. Er strich die Namen Doblinger und Hagemann mit seinem gedachten extraharten Bleistift durch. Er öffnete die Augen und blickte in den Himmel. Drittens? Dritte Möglichkeit? Er dachte nach. Er war ein verträglicher Mensch, er hatte keine Feinde, er hatte niemandem etwas getan. Drittens: ein Scherz, ein Jux, ein Streich, wie man ihn bei einem Junggesellenabschied macht. Das war eine ganz unwahrscheinliche Möglichkeit. Ein nachträgliches Geburtstagsgeschenk von seiner Darts-Clique? Ein verspäteter Streich seines Abiturjahrgangs? Unwahrscheinlich, unmöglich, abartig. Vor allem wegen des Aufwands. Wie sollten sie ihn hierhergebracht haben? Mit einem Hubschrauber? Viertens. Den vierten Punkt konnte man gleich durchstreichen: Eine gefährliche Outdoor-Event-Situation, an der Manager manchmal teilnehmen. Er war nie in solch einer Firma gewesen, er hatte nur davon gelesen. Hatte man ihn verwechselt? Er schloss die Augen wieder, strich die vier Punkte im Geiste durch, zerknüllte den Zettel und warf ihn in den Papierkorb, der neben seinem Schreibtisch stand. Alles im Geiste. Er holte den Knäuel wieder heraus, strich ihn glatt und schrieb einen weiteren Punkt auf. Fünftens: Roswitha. Er starrte den Namen an. Je länger er darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher erschien ihm diese Möglichkeit. Er öffnete die Augen wieder. Roswitha, ja, das lag im Bereich der Möglichkeiten. Er stemmte sich mit beiden Beinen im Inneren der Felsnische ab und rutschte dadurch noch ein paar Zentimeter nach außen.
    »Hilfe!«, schrie er nach oben in die Felswand, dann wartete er ein paar Sekunden. Die Wand hatte einen leichten Überhang, er konnte nicht sehen, wo sie endete. Er schob sich noch etwas weiter hinaus. »Hilfe!«, schrie er nochmals, diesmal mit voller Kraft. Er wartete wieder ein paar Sekunden und lauschte, ob es Reaktionen gäbe. Geflüster? Gekicher? Dem werden wirs schon zeigen da unten? Nichts. Roswitha. Alle Mosaiksteine passten plötzlich zusammen. Er griff mit der freien Hand hinaus, bekam einen vorspringenden Stein zu fassen, konnte sich dadurch noch weiter hinausziehen und aufrichten. Er ragte jetzt bis zur Brust aus der Nische heraus und bekam einen genaueren Eindruck davon, wie es dort oben aussah. Mit einem knirschenden Geräusch riss das Seil aus der Halterung an der Nischendecke, und er rutschte mit dem Oberkörper über die Kante. Sofort verlor er das Gleichgewicht, er ruderte mit den Armen, doch er bekam den Stein von vorhin nicht mehr zu fassen und glitt vollständig aus der Felsnische heraus. Er war zu keinem Schrei mehr fähig. Roswitha.

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    And the coloured girls said
    »doo do doo do doo doo doodoo,
    doo do doo do doo doo doodoo, DOOOOOO !«
    Lou Reed, Walk on the Wild Side
    »Wir müssen jeden einzelnen Bürger am Kampf gegen das Verbrechen beteiligen«, sagte Maximilien Robespierre am 26. Juli 1794 im Nationalkonvent zu den versammelten Parlamentariern. Er stellte sich dabei auf die Zehenspitzen und führte mit den Armen eine fast balletthafte Bewegung durch, eine halbkreisförmige Armbewegung, um die Wucht seiner Worte zu unterstreichen. Genau dieselbe Pose nahm jetzt Gemeinderat Toni Harrigl in der Bäckerei Krusti ein, und seine Stimme zitterte ähnlich wie damals die von Robespierre.
    »Wir haben schon zwanzig Leute auf dem Wank, am Kramerplateauweg und rund um die Partnachklamm postiert. Sie streifen unauffällig herum, haben die Aufgabe, die Augen offenzuhalten und sich alle Wanderer genauer anzusehen. Wer also mitmachen will bei unserer präventiven

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