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Niedertracht. Alpenkrimi

Niedertracht. Alpenkrimi

Titel: Niedertracht. Alpenkrimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Maurer
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Standmöglichkeit. Die literarischen Wanderer hatten ihre Phase der Sprachlosigkeit überwunden, einige kreischten auf, denn sie glaubten nichts anderes als einen halbnackten Faun, einen bocksfüßigen Satyr dort oben zu erblicken, der sich von der schlafenden Phyllis entfernt hatte und sich nun über sie, die lediglich literarisch Interessierten, herzumachen begann. Professor Doktor Milkrodt fasste sich als Erster.
    »Hallo! Sind Sie in Bergnot?«, rief er mit markanter Stimme hinauf. Jennerwein fehlte die Kraft für eine scherzhafte Erwiderung, im Stil von
Nein, ich übe nur Nacktklettern
.
    »Ja«, schrie er vielmehr nach unten. »Ich springe auf die Latschen! Fangen Sie mich auf!«
    »Nein, stopp, das brauchen Sie nicht«, schrie Milkrodt. »Steigen Sie noch einen halben Meter weiter nach unten und dann nach rechts. Dann sehen Sie schon die Eisensprossen, die herunterführen.«
    Jennerwein ließ sich noch etwas ab, und jetzt wurde die Situation fast peinlich. Breiteste Wandhaken für Wochenendkletterer, für Vorschulkraxler zierten die Wand und führten von dem bequemen Spazierweg dort unten ganz gemütlich zu ihm herauf in die Höhe, die er vorher als so unwirtlich und kalt eingeschätzt hatte. Jennerwein überlegte kurz, ob er nicht sofort zu Maria hochsteigen sollte. Doch er entschied sich dagegen. Sie musste sich noch ein paar Sekunden gedulden, denn – Höhenangst kennt keine Höhe – der Abstieg mit ihr würde nicht leicht werden.
     
    Jennerwein stieg Schritt für Schritt herunter. Die Teilnehmer des literarischen Spaziergangs wussten nicht so recht, wie sie sich verhalten sollten. War das jetzt echt? Milkrodt war bekannt dafür, dass er ab und zu solche Überraschungen einbaute. Am Gardasee hatte er einen Schauspieler engagiert, der den alten Goethe nachstellte. In Augsburg war Bertolt Brecht plötzlich aus einer Seitengasse aufgetaucht. Aber wen sollte dieser Mann darstellen, der jetzt, in gestreiften Boxershorts, die Eisen herunterkletterte? Milkrodt half ihm von der letzten Sprosse.
    »Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«
    »Ja, alles in Ordnung. Auch wenn es momentan nicht so aussieht: Ich bin Hauptkommissar Hubertus Jennerwein, ich ermittle in den Felsmörder-Fällen. Sie haben vielleicht davon gehört?«
    Flüchtig hatte man davon gehört. Man hatte genug damit zu tun gehabt, sich lesend und einfühlend auf die heutige Wanderung vorzubereiten, man studierte
Sinn und Form
und nicht die RTL -News.
    »Ich habe natürlich keine Dienstmarke und keinen Ausweis dabei«, sagte Jennerwein, als er die skeptischen Blicke der Wortkunstinteressierten auf seiner nackten Haut spürte.
    »Sie müssen mir eben glauben. Es eilt, dort oben befindet sich noch eine Frau in einem wesentlich schlechteren Zustand. Und ich habe auch kein Mobilfunkgerät. Hat jemand von Ihnen eines?«
    Niemand hatte eines, natürlich nicht. Die Teilnehmer taten fast entrüstet. Ganz glaubten sie dem Kommissar immer noch nicht.
    »In die Oper nehme ich doch auch kein Handy mit«, sagte eine der Wanderinnen in Milkrodts Kreis.
    »Dann klettere ich nochmals hoch«, sagte Jennerwein.
    »Nein, lassen Sie mal«, sagte Milkrodt. »Sie bleiben hier und ruhen sich aus. Sie sehen, mit Verlaub gesagt, nicht gut aus.«
    Milkrodt zog die eigene Jacke aus und legte sie Jennerwein um, der setzte sich hin, und plötzlich schlugen die Wellen der Müdigkeit, der Erschöpfung über ihm zusammen. Eine Nacht in der Kälte (und er schätzte, dass es mindestens eine Nacht gewesen sein musste) hatte aus ihm ein bibberndes Häuflein gemacht. Er kämpfte mit der Müdigkeit. Sein Kopf dröhnte, und ihm war schwindlig.
    »Danke«, sagte Jennerwein. »Wo ist das nächste Telefon?«
    »Eine Dreiviertelstunde von hier«, entgegnete Milkrodt.
    »Ich bitte Sie, dorthin zu gehen und die Polizei anzurufen. Wenn Sie unterwegs jemanden mit einem Handy treffen –«
    »Bin schon unterwegs«, sagte Milkrodt. »Wie war nochmals Ihr Name?«
    »Jennerwein. Hauptkommissar Hubertus Jennerwein.«
    »Wie der Wildschütz?«
    »So ist es.«
    Milkrodt warf den Rucksack ab und nickte.
    »Und eines sage ich Ihnen«, rief Milkrodt und drehte sich nochmals um. »Wenn das ein übler Scherz ist, dann können Sie was erleben! Ich bitte alle Teilnehmer des Kurses, ein wenig auf ihn aufzupassen.«
    Da saß er jetzt also, der dienstmarkenlose Retter der Menschheit, misstrauisch beäugt von bebrillten Intellektuellen. Einige musterten ihn, als ob sie erraten wollten, welcher Dichter er nun

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