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Niedertracht. Alpenkrimi

Niedertracht. Alpenkrimi

Titel: Niedertracht. Alpenkrimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Maurer
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hatten. Dafür umrundete er, auf den Spuren von Oskar Maria Graf, den Starnberger See, dafür spürte er, in Augsburg, dem Treiben von Bertolt Brecht nach, dafür schnüffelte er die Tegernseer Luft, die Ludwig Thoma geatmet hatte. Einiges hatte Bayern ja doch zu bieten in Hinblick auf die schreibende Zunft. Diesmal hatte er eine festes-Schuhwerk-ist-mitzubringen-Exkursion ins wirklich Südliche gewagt, und er führte seine bestens vorbereiteten Teilnehmer des Kurses
Thomas Mann im Werdenfelser Land
den Köhlerbichl hinauf. Der Weg war breit, gut befestigt und bot von allen Punkten aus eine gnadenlos schäfchenwolkige und heitere Aussicht. Etwas anderes hätte man sich bei Thomas Mann auch gar nicht vorstellen können.
    »Hier«, sagte Jens Milkrodt, »hat er gestanden.«
    Die zwanzig andächtig lauschenden Literaturliebhaber stellten sich vor, wie Thomas Mann hier mitten auf dem Spazierweg stehen geblieben war, damals, seinerzeit, genau an diesem Platz, mit Gamaschen und Vatermörder. Und mit Bauschan, dem gelehrigen Hühnerhundmischling, den er so liebte. Ein wohliges Schaudern durchströmte die Jünger: Da also auch! Gerade gestern noch in Venedig herumgewagnert und durchgemahlert, heute schon hier am Köhlerbichl, vermutlich wieder mit einer neuen Idee des stetigen Verfalls im Kopf. Es war ein einseitig ausgesetzter Spazierweg, auf der einen Seite ging es anmutig hinunter in die Köhlerschlucht und zum Köhlerwald, auf der anderen Seite ragte der Fels steil auf, wie um symbolisch zu zeigen: Hier rechts, meine Damen und Herren, sehen Sie die Niederungen des Alltags – dort links die Höhenflüge der Kunst, bitte nicht blitzen, die Ideen sind rar und scheu.
    »Wo hat er eigentlich gewohnt, unten im Dorf?«, fragte ein Mann vom Typ allseits-interessierter-Renter.
    Jens Milkrodt war ein wandelndes Lexikon, keine Frage konnte ihn überraschen:
    »In der Pension Waxensteiner Hof. Der Page, der ihn damals bedient hat, lebt heute noch. Wir gehen später hinunter und sprechen mit ihm.«
    Dieser Milkrodt! Wahnsinn.
    »Meinen Sie, dass Thomas Mann auch geklettert ist?«
    »Ich denke nicht. Im Gegensatz zu Lyrikern klettern Romanciers selten. Können Sie sich vorstellen, dass der berühmte Sohn Lübecks hier hochgeklettert ist?«
    Milkrodt deutete die steile Felswand hinauf, die sich, mit kleinen Grasbüscheln und Latschen durchsetzt, neben dem Wanderweg erhob. Alle der literarisch Interessierten legten den Kopf in den Nacken, blickten hoch und ließen ihre Phantasie von der Leine.
     
    Jennerwein hatte sich, bevor er hinunterschaute, natürlich eine Vorstellung davon gemacht, was ihn erwartete, eine bedrohliche Tiefe von fünfzig oder hundert Metern vielleicht. Eine abgrundtiefe Leere von zweihundert oder fünfhundert Metern hätte es auch sein können, vielleicht sogar ein gähnender Abgrund, der meilentief ins Nichts hinunterführte. Selbst einen gerade wieder aktiv gewordenen Vulkan, auf dessen Kraterrand er ausgesetzt worden war, hätte er schaudernd hingenommen, und wenn er unten eine rotglühende Hölle aus brodelnder Lava gesehen hätte, wäre er nicht so erschrocken wie jetzt. Sein Blick war auf Tiefe, auf Entfernung, auf gähnende Leere eingestellt gewesen. Doch was er jetzt sah, lag für Jennerwein so fern von allen schrecklichen ausgemalten Erwartungen, es kam so vollkommen anders, dass er das Gefetze aus zusammengeknoteten Kleidern fast losgelassen hätte. Denn dort unten, wo er die entsetzliche Tiefe erwartet hatte, standen, nicht weiter als zehn oder zwölf Meter entfernt, ein paar behäbige Wanderer auf einem breiten, sauber gepflegten Kiesweg. Sie scharten sich um einen groß gewachsenen Mann mit Schiebermütze und Rucksack, der ein offenes Buch in der einen Hand hielt, während er mit der anderen zu ihm hinaufdeutete. Die Wanderer dort unten schienen genauso erschrocken über seinen Anblick, sie standen mit aufgerissenen Augen da, manche schlugen beide Hände vor den Mund. Maria und er waren nicht weißgottwo am Ende der Welt ausgesetzt worden, sondern direkt über einer geharkten Seniorenpromenade!
     
    Jennerwein gewann seine Fassung bald zurück, er umklammerte das Kleiderband mit beiden Händen und stemmte sich mit den Beinen ganz aus der Nische heraus. Die ineinandergewirkten Hosen und Jacken hielten gut, und er konnte sich mit dem ganzen Körper herausziehen. Er fand bequemen Tritt auf dem Felsen unterhalb der Nische, er ließ sich eine Körperlänge herunter und sah weiter unten schon die nächste

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