Niedertracht. Alpenkrimi
Gibt es denn schon Spuren?«
»Ja, jede Menge«, nickte Becker. »Der Arzt hier im Krankenhaus hat gesagt, dass Sie beide mit Lachgas betäubt worden sind. An den Überfall selbst werden Sie sich vermutlich nicht mehr erinnern können.«
»Retrograde Amnesie«, sagte die Polizeipsychologin. »Naja, auf diese Weise hatte man wenigstens mal Gelegenheit, die Erinnerungstrübung am eigenen Leib zu verspüren.«
Schon wieder ganz schön frech, die Frau Doktor, dachte Jennerwein. Angesichts dessen, was vorgefallen ist.
»Daraufhin hat der Täter Sie beide bis zum Parkplatz unten am Köhlerbichl gefahren«, fuhr Becker fort. »Dort hat er Sie umgeladen, vermutlich in einen Jeep. Mit Verlaub, Frau Schmalfuß, aber mit Ihrer alten Schrottkarre, dem Citroën, wäre er den Weg nicht hinaufgekommen.«
»Ich glaube eher, dass das zu auffällig gewesen wäre«, warf Maria schnippisch ein, »wenn da plötzlich ein Privatauto – ein Oldtimer – eine Rarität aus den Neunzigern – hinaufgekurvt wäre. Deshalb der unauffällige Jeep.«
»Weiter«, mahnte Jennerwein.
»Er hat an der Stelle angehalten, wo die eisernen Trittleitern die Wand hinaufführen. Die Stelle hat den zusätzlichen Vorteil, dass man den Spazierweg in beide Richtungen gut einsehen kann. Der Täter musste dort nicht befürchten, von Wanderern entdeckt zu werden, die plötzlich um die Ecke kommen. Dann hat er seine beiden Opfer ausgeladen, hat ihnen Sitzgurte verpasst und ist mit ihnen die Sprossen des Trimm-dich-Klettersteiges hochgeklettert. Oben hat er sie in die kleine Nische gesteckt, die er nur insofern präpariert hat, als er einen Haken in die Decke gebohrt hat. Das kann er schon vorher gemacht haben. Dann hat er auf der kleinen Wiese gewendet, die sich ein Stück weiter oben neben dem Weg ausbreitet, und ist wieder nach unten gefahren.«
»Es muss ein gut durchtrainierter Kerl sein«, sagte Jennerwein. »Ich bin ja nun nicht gerade eine zarte Elfe. Ich meine: im Gegensatz zu Maria.«
Frau Doktor errötete.
»Er hat Lachgas verwendet?«, fuhr Jennerwein fort. »Soviel ich weiß, ist das doch als Betäubungsmittel vollkommen außer Mode.«
»Vollkommen richtig«, sagte Becker. »Ärzte verwenden Distickstoffoxid schon Jahrzehnte nicht mehr. Zahnärzte nehmen es noch manchmal, bei Kindern. Aber auch hier ist die Tendenz rückläufig.«
»Passt voll zu seinem Stil«, ergänzte Nicole. »Eigentlich eine geniale Idee, konsequent Tatwerkzeuge zu benützen, deren Herstellungsdatum nicht mehr zu eruieren ist. Das ist doch spurenverwischtechnisch ideal.«
»Jedenfalls wollte er uns alle zum Narren halten«, sagte Johann Ostler. »Fehlt eigentlich bloß noch, dass er auf dem Parkplatz seine alten Reifen hingelegt hat und auf den Felgen weitergefahren ist, nur um zu zeigen: Seht her, wie schlau ich bin.«
»Auch so ist das Ganze ziemlich dreist«, sagte Jennerwein. »Aber schließen wir die Erkundigungen in eigener Sache vorerst mal ab.
Wir
sind ja wohlauf. Wie sieht es mit dem dritten Bergopfer, dem Hamburger Matrosen, aus?«
Becker hielt eine kleine Mappe hoch.
»Sie werden es sich sicherlich schon denken können: Dasselbe Schema wie bei den beiden anderen. Ein abgewetzter Rucksack, gefüllt mit Krimskrams. Uralte Klamotten, Tod durch Kachexie. Die Bergwachtler haben ihn hinten in den Gwölbgängen gefunden, er war schon vier Wochen tot. Man kann die Stelle von einem gegenüberliegenden Hügel beobachten. Sonst keine weiteren Auffälligkeiten.«
»Trotzdem ist dieser Fund so etwas wie ein erster Fahndungserfolg«, sagte Stengele. »Er ist das erste Opfer, auf das wir nicht zufällig gestoßen sind, sondern das wir systematisch gefunden haben. Wir haben so an die fünfzig Stellen in den Bergen identifiziert, die den Anforderungen des Täters genügen müssten. Wir haben die Hüttenwirte und Jäger informiert und sie gebeten, die Augen offen zu halten. Außerdem haben wir die Stellen sofort an die Bergwacht weitergegeben. Sie sind mit zwei Hubschraubern losgeflogen, und schon an der fünften angeflogenen Stelle, eben in den Gwölbgängen, haben sie den Hamburger Seemann entdeckt und geborgen.«
»Fliegen die Hubschrauber weiter?«
»Natürlich. Gestern bis Einbruch der Dunkelheit, heute seit der Morgendämmerung.«
»Fünfzig Stellen? Das ist ja unglaublich.«
»Man hat fast den Eindruck, dass die Werdenfelser Berge für solche grausigen Versteckspiele erschaffen wurden. Sozusagen ein Tal des Teufels.«
»Gut gemacht«, sagte Jennerwein.
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