Niels Bohr - Physiker und Philosoph des Atomzeitalters
Weise so nah an ein Verständnis der dynamischen Vererbung heranzubringen, wie es Bohr mit seinem genuinen Zugang zu den Phänomenen beim Begreifen der stabilen Atomformen gelungen war. Delbrück meinte allerdings gegen Ende seines Lebens, dass der Bohr der Biologie doch noch nicht aufgetaucht sei; der Wissenschaftler, der neben den konkreten Ergebnissen der empirischen oder theoretischen Forschung auf diesem Gebiet auch immer die Abhängigkeit des jeweils erreichten Wissens von der Sprache bedenke und die allgemeinen Umstände im Blick behalte, die zum Erkennen durch Menschen gehören, werde noch gesucht.
Auf ihn warten wir immer noch.
Die Wahl des einfachen Systems
Die Gene können also seit Mitte der 1930er Jahre als eigenständige Atomverbände erforscht werden. Die Molekularbiologie, die dieses Forschungsprogramm zielgerichtet umsetzt, speist sich nicht zuletzt aus den Gedanken, die Bohr 1932 in die Welt gesetzt hat, als er seine Betrachtungen zu »Licht und Leben« formulierte. Die zweite, bereits erwähnte Anregung, die der künftige Biologe Delbrück seiner Erinnerung nach von dem Physiker Bohr mit auf den Weg nahm, war die Ermunterung, das Wasserstoffatom der Biologie zu finden. Tatsächlich beruhte der Erfolg von Bohrs Trilogie – ihre Beweiskraft und ihre allgemeine Akzeptanz – mit ihrem Einblick in den Aufbau der Atome auch darauf, dass den Physikern in Form des Wasserstoffatoms das denkbar einfachste System zur Verfügung stand, an dem sich die neuen Gesetze mehr oder weniger erraten oder intuitiv angeben ließen. Wenn es auf der Welt nichts Einfacheres als Atome der Art von Kohlenstoff oder Eisen geben würde und die Physiker gezwungen gewesen wären, die Quantentheorie mithilfe ihrer Spektrallinien zu erfassen, hätten sie auf verlorenem Posten gestanden.
Es galt nun, danach zu suchen. Im Berliner Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung wurde Delbrück noch nicht fündig. Aber seine Chance kam, nachdem ihm 1936 die Rockefeller-Stiftung angeboten hatte, seine Studien am California Institute of Technology (Caltech) bei Thomas H. Morgan fortzusetzen, der als der große Genetiker seiner Zeit galt. Dieses Angebot konnte Delbrück nicht ablehnen. 1937 brach er mit großen Erwartungen in die USA auf, um sich in Morgans Laboratorium einzufinden – aber nur, um es schleunigst wieder zu verlassen. Die Leute im Fliegenraum unternahmen damals die kompliziertesten Kreuzungen mit endlos vielen Mutationen, was sicher verdienstvoll war, aber Delbrück keine Chance bot, die »Lebenseinheit« Gen als das molekulare Gebilde zu erfassen, das er sich vorgestellt hatte. Außerdem erlaubte das Hantieren mit den Fliegenchromosomen nicht, Bohrs Gedanken der Grundeigenschaften des Gens zu verfolgen.
Die Physik der Atome war vorangekommen, weil man sich auf die Stabilität der Atome konzentrierte und nur sie verstehen wollte. Die Biologie der Gene sollte – in Delbrücks Sicht der Dinge – dadurch Fortschritte machen, dass man sich auf die Grundeigenschaft des Gens, die »Teilung in zwei«, konzentrierte – was schon Goethe als »Urphänomen« bezeichnet hatte. Was Delbrück nach Bohrs Vorgabe als Wasserstoffatom suchte, war so etwas wie ein biologisches System, das zum einen vornehmlich damit beschäftigt war, sich zu teilen (zu vermehren), und das sich dabei zum anderen gut vermessen ließ und somit einer quantitativen Analyse zugänglich sein würde. Er konnte zunächst nicht wissen, dass er am Caltech genau am richtigen Ort war und von Morgans Fliegenraum nur ein einziges Stockwerk tiefer zu gehen hatte, um sein Objekt der Begierde zu treffen. Als er eines Tages auf der Suche nach einem anderen Arbeitsgebiet die Laborräume von Emory Ellis (1906–1996) betrat, der mit Bakterien und Viren arbeitete, entdeckte er in dessen Technik das, was er sich erhofft hatte. Ohne zu zögern gab Delbrück das Experimentieren mit Drosophila auf und wandte sich den Mikroorganismen zu, mit denen Ellis seine Versuche durchführte.
Die im Rückblick sich als wegweisend herausstellende Entscheidung von Delbrück, seine Suche nach der Natur des Gens mithilfe von winzigen Bakterien und den noch sehr viel kleineren Viren fortzusetzen, musste 1937 ziemlich rätselhaft wirken. Noch konnte niemand sagen, ob Bakterien molekular so eingerichtet sind wie die Fliegen und Erbsen, mit denen bislang Genetik getrieben wurde, und ob sie und ihre Viren überhaupt mit Genen ausgestattet waren. Aber darauf achtete Delbrück nicht, als er sah,
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