Niels Bohr - Physiker und Philosoph des Atomzeitalters
aus eigener Kraft, allein aus sich selbst nicht entwicklungsfähig.«
Die Komplementarität, die Pauli überzeugt vertrat, trennt zwar nach wie vor das beobachtende Subjekt von dem Objekt seiner Begierde, das es vermessen will, und wie in der klassischen Physik hat das forschende Ich auch die freie Wahl bei der Versuchsapparatur. Aber was früher noch ohne Konsequenzen möglich war, muss in der Quantenmechanik bezahlt werden. Die Wahl der Untersuchungsmethode ist jetzt nicht mehr ohne Opfer möglich, und am Ende steht nicht mehr eine einzige Naturbeschreibung, die von sich behaupten kann, allein die Wahrheit zu liefern. Bedingt durch ihre Ganzheitlichkeit besteht im Rahmen der Quantenmechanik die neue Möglichkeit, mehrere Naturbeschreibungen zu haben, die komplementär zueinander und somit auch gleichberechtigt sind. Deshalb hat Schrödingers Wellenmechanik nicht die Quantenfassung von Heisenberg verdrängen können. Deshalb erscheint uns Licht einmal als Welle und einmal als Teilchen. Deshalb gibt es die Unbestimmtheitsrelationen von Heisenberg. Pauli hatte das nicht nur als Erster verstanden, sondern er war auch noch bis zuletzt bemüht, diesen Gedanken der Komplementarität weiterzutragen, und zwar bis in den seelischen Bereich hinein.
Für Pauli waren zum Beispiel das Bewusste und das Unbewusste keine Gegensätze, die sich abstoßen, oder Größen, die ineinander enthalten sind. Er verstand sie vielmehr als komplementäre Begriffe, die in einem einander ausschließenden Verhältnis zueinander stehen. Dabei lässt sich eine einfache Analogie zu den komplementären Eigenschaften eines Elektrons – Welle und Teilchen – gewinnen, denn nur eine von ihnen lässt sich als »aktuell seiend« bezeichnen, wenn man sie im Experiment prüft, während die andere nur »der Möglichkeit nach seiend« ist. Entsprechend lässt sich das Unbewusste als »der Möglichkeit nach seiend« charakterisieren und dem aktuell sich zeigenden Bewusstsein komplementär zur Seite stellen.
Die Quantenmechanik hatte – Pauli zufolge – damit zwar en d-lich begonnen, den verhängnisvollen kartesischen Schnitt zu kitten, aber trotz aller Komplementarität und Polarität blieben auch bei ihr Körper und Geist getrennt. Die beiden Seiten der Wirklichkeit, die wir als physisch und psychisch (oder quantitativ und qualitativ) bezeichnen, stehen sich bis heute mehr oder weniger unvereinbar gegenüber. Den Schnitt zwischen ihnen so zu überbrücken, dass man das uralte Problem, in welcher Beziehung die Vorgänge in der Körperwelt zu denen in der Seele stehen, mit der Idee der Komplementarität lösen könnte, das war Paulis Ziel.
Von ihm stammt auch der wunderbare Satz, der eine komplementäre Orientierung nahelegt: »Nach meiner Ansicht ist es nur ein schmaler Weg der Wahrheit (sei es eine wissenschaftliche oder eine sonstige Wahrheit), der zwischen der Scylla eines blauen Dunstes von Mystik und der Charybdis eines sterilen Rationalismus hindurchführt. Dieser Weg kann voller Fallen sein, und man kann nach beiden Seiten abstürzen.« Mit anderen Worten, es ist ratsam, zu jeder Beschreibung eines Naturphänomens die gleichberechtige und folglich ebenso anspruchsvolle komplementäre Form der Erfassung und in beiden zusammen die Erkenntnis zu finden, die man gesucht hat und mit der man sich zufriedengeben kann. Wer Licht verstehen will, muss es als Welle und Teilchen betrachten. Wer von Natur spricht, kann sowohl an die Mutter Natur denken, der wir unsere Existenz verdanken, als auch an das Lager der Ressourcen, dem wir die nötigen Rohstoffe für industrielle Produktionen entnehmen. Wer Farben verstehen will, kann dabei wie Newton vorgehen und das weiße Sonnenlicht in einem Prisma zerlegen, um seine Teile zu charakterisieren. Er kann sich aber auch mit Goethe den Sinneseindrücken der Augen überlassen und die Farben erleben. Was für Goethe einfach ist – das Sonnenlicht –, ist für Newton zusammengesetzt, und was für Newton einfach ist – Licht mit einer Wellenlänge –, ist für Goethe kompliziert hergestellt.
Dieses Spiel des Komplementären lässt sich fortsetzen, und es kann sogar im Bereich der Kultur Anwendung finden.
Bild 8
Niels Bohr im Gespräch mit Wolfgang Pauli (rechts); in der Mitte hört Werner Heisenberg zu. Das Trio befindet sich in Bohrs Institut in Kopenhagen.
»Mozart, die Quantenmechanik und eine bessere Welt«
Zu den Physikern, die Bohr gut gekannt und mit seinen Ideen sympathisiert haben, gehört nicht
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