Niels Bohr - Physiker und Philosoph des Atomzeitalters
Verführung der Literatur werden zu lassen. Seine Gegenüberstellung von Lächerlichkeit und Menschlichkeit soll zeigen, dass Kunst und Wissenschaft gleichberechtigt sind. Der »große Gedanke«, wie Chandler seine Einsicht selbst nannte, soll aber auch ausdrücken, dass wir die Wissenschaft besser verstehen, wenn wir sie nicht anonymen Kollektiven in anonymen Laboratorien zuschreiben, sondern in ihr dieselben kreativen Individuen am Werk sehen, die wir in der Kunst ganz selbstverständlich erwarten. Und er soll uns weiter zu verstehen geben, dass wir der Kunst näher kommen können, wenn wir etwas von den rational zugänglichen und nachvollziehbaren Gedanken erfahren, die Schriftsteller, Komponisten, Maler oder Bildhauer an- und umtreiben müssen, bevor sie ihr schöpferisches Tun beginnen oder während sie an ihren Werken arbeiten.
Die traditionelle Trennung
Wir würden in einer besseren Welt leben, wenn sich Chandlers Gedanke allgemein verbreitet hätte und nicht das Gegenstück dazu so populär geworden wäre: die Rede von den zwei getrennten Kulturen, die zwei Jahrzehnte später – Ende der 1950er Jahre – durch den britischen Romancier und Physiker Charles P. Snow aufkam. Snow störte sich an der Überheblichkeit und dem Desinteresse vieler Intellektueller gegenüber technisch-industriellen Abläufen. In diesem Zusammenhang fiel Snow an der Universität Cambridge ein störendes
Ungleichgewicht auf. Er brachte es auf eine griffige Formel, indem er die Sonette Shakespeares neben den Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik stellte. Er verwies darauf, dass es zwar in bestimmten gebildeten Kreisen zum guten Ton gehöre, den erwähnten Hauptsatz der Wärmelehre für überflüssig und belanglos zu halten, während man zugleich jeden verachte, der sich nicht mit den Sonetten des elisabethanischen Dramatikers vertraut zeige. Tatsächlich zählt auch heute als ungebildet, wer Shakespeare nicht kennt, während man eher stolz darauf ist, von dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik noch nichts gehört zu haben.
Diese Asymmetrie durchzieht weite Bereiche der abendländischen Debatte um die Bildung. Sie erstreckt sich besonders auf das, was in Quizsendungen unter der Rubrik »Was man weiß, was man wissen sollte« zu finden ist. Jeder weiß, dass er etwas von Picassos »Rosa Periode« oder vom »Blauen Reiter« und seinen Malern wissen sollte. Aber niemand meint, dass es sich lohnt, ebenso über die Struktur der Doppelhelix, die Theorie der chemischen Bindung oder die Wirkungsweise von Antibiotika informiert zu sein und zu wissen, wem wir die diesbezüglichen Einsichten zu verdanken haben. Wer Arthur Schopenhauer nicht kennt oder nicht von ihm gehört hat, gilt als ungebildet. Wer hingegen Ludwig Boltzmann nicht einordnen kann, macht sich über diese Lücke keine Sorgen – und niemand hierzulande wird ihm dies übel nehmen. Dieses Gegenüberstellen könnte man unbegrenzt ausführen, da ein Buch, das Alles, was man wissen muss aufzählt – Bildung von Dietrich Schwanitz –, nicht zuletzt deshalb zu einem Beststeller geworden ist, weil es die Naturwissenschaften konsequent ausschließt.
Allerdings ließe sich einwenden: Natürlich nicken mehr Leute, wenn von den Sonetten Shakespeares gesprochen wird, und stets schütteln viele verständnislos ihr Haupt, wenn vom Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik die Rede ist. Doch obwohl jedes Publikum so reagiert, wie es Snow beschrieben hat, merken wir nicht, dass an dieser Stelle trotzdem etwas nicht stimmt. Es trifft meiner Erfahrung nach nämlich überhaupt nicht zu, dass jeder die Sonette und niemand die Hauptsätze der Thermodynamik kennt. Böse ausgedrückt
könnte man behaupten, dass dem allgemeinen Publikum weder etwas zu den Gedichten noch zu den Gesetzen einfällt. Was bestenfalls zutrifft, lässt sich folgendermaßen formulieren: Zwar hat jeder von den Sonetten gehört, die Shakespeare geschrieben hat, trotzdem kennt oder versteht kaum jemand diese Texte genauer – eher noch weniger, als dies für den Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik der Fall ist, dem zufolge eine physikalisch messbare Größe namens Entropie nur zunehmen kann.
An dieser Stelle fällt noch etwas anderes auf, nämlich die Tatsache, dass immer dann, wenn von Kunst gesprochen wird, der Name des Künstlers fällt, der mindestens ebenso bekannt ist – Mozart und Shakespeare in den hier angeführten Beispielen. Bei der Wissenschaft ist das nicht der Fall. Sie kommt ohne Namen aus. Weder bei der
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