Niels Holgersens wunderbare Reise mit den Wildgaensen - Zweiter Teil
Augenblick an machte sie ihre Sache ausgezeichnet, denn
alles Lernen wurde ihr leicht, sobald ihre Schüchternheit sie nicht lähmte.
Jetzt, wo ihr die Schuppen von den Augen gefallen waren, sah sie überall die große, wunderbare Güte. Sie sah, wie sorgfältig
alles für die Besucher des Seminarsgeordnet war. Die Teilnehmer des Kursus erhielten weit mehr als nur den Unterricht in Handfertigkeit, Der Vorsteher hielt
ihnen Vorträge über Erziehung, sie turnten miteinander, gründeten einen Gesangverein und kamen fast jeden Abend zu Vorlesungen
und musikalischen Aufführungen zusammen. Und außerdem waren da Bücher, Badehäuser und Klaviere, alles zu ihrer Verfügung.
Der Zweck des Ganzen war, daß sich alle glücklich und Wohl befinden und fröhlich sein sollten.
Allmählich wurde es ihr klar, wie unschätzbar es war, die schönen Tage des Sommers auf einem großen schwedischen Herrenhof
verbringen zu dürfen. Das Schloß, in dem der alte Herr wohnte, lag auf einem Hügel, der fast von allen Seiten von einem See
umgeben und nur durch eine schöne steinerne Brücke mit dem Lande verbunden war. Sie hatte nie etwas so Schönes gesehen wie
die Blumengruppen auf der Terrasse vor dem Schloß, wie die alten Eichen im Park, wie den Weg am See entlang, wo die Bäume
über das Wasser hinabhingen, oder wie den Aussichtspavillon auf der Felsenklippe über dem See, Die Schulgebäude lagen dem
Schloß gerade gegenüber auf grünen schattigen Wiesen, aber es stand ihr frei, im Schloßpark zu lustwandeln, sooft sie Zeit
und Lust hatte. Es war ihr, als habe sie nie gewußt, wie schön der Sommer sei, bis sie ihn an einem so herrlichen Ort verbringen
durfte.
Nicht daß eine große Veränderung mit ihr vorgegangen wäre. Mutig und selbstbewußt wurde sie nicht, aber sic fühlte sich froh
und glücklich. Sie wurde förmlich durchwärmt von all dieser Güte. Sie konnte sich ja nicht unglücklich fühlen an einem Ort,
wo alle es gut mit ihrmeinten und ihr zu helfen bemüht waren. Als der Kursus beendet war und die Schüler Nääs verlassen sollten, war sie ganz neidisch
auf alle, die dem alten und dem jungen Herrn richtig zu danken und mit schönen Worten das auszudrücken vermochten, was sie
fühlten. Soweit würde sie es nie bringen.
Sie kehrte heim und nahm die Arbeit an der Schule wieder auf und tat es mit ebensoviel Freude wie bisher. Sie wohnte nicht
weiter von Nääs entfernt, als daß sie da hinübergehen konnte, wenn sie einen Nachmittag frei hatte, und das tat sie in der
ersten Zeit auch ziemlich oft. Aber da waren immer neue Kurse, neue Gesichter, ihre Schüchternheit stellte sich wieder ein,
und sie wurde ein immer seltenerer Gast in der Handfertigkeitsschule. Aber die Zeit, die sie selbst als Schülerin auf Nääs
zugebracht, lebte in ihrer Erinnerung immer als das beste, was sie erlebt hatte.
An einem Frühlingstage hörte sie, daß der alte Herr auf Nääs gestorben sei. Da dachte sie an den schönen Sommer, den sie auf
seinem Gut hatte verweilen dürfen, und es betrübte sie, daß sie sich nie so recht bei ihm bedankt hatte. Er hatte sicher Danksagungen
genug von hoch und niedrig erhalten, aber sie würde sich glücklicher gefühlt haben, wenn sie ihm mit ein paar Worten erzählt
hätte, wieviel er für sie getan hatte.
Auf Nääs wurde der Unterricht auf dieselbe Weise fortgesetzt, wie vor dem Tode des alten Herrn. Er hatte nämlich der Schule
das ganze schöne Gut geschenkt und sein Neffe blieb auch fernerhin Vorsteher und leitete das ganze Unternehmen.Jedesmal, wenn die Lehrerin nach Nääs kam, war da etwas Neues zu sehen. Jetzt war da nicht nur der Handfertigkeitskursus,
sondern der Vorsteher wollte auch gern die alten Gebräuche und die alten Volksvergnügungen wieder ins Leben rufen, und er
errichtete daher einen Kursus für Singspiele und viele andere Arten von Spielen. In einer Hinsicht aber blieb alles beim alten:
so wie früher durchwärmte auch jetzt die Güte alle Menschen, sie fühlten, wie alles so geordnet und eingerichtet war, daß
sie sich freuen und nicht nur Kenntnisse einheimsen, sondern auch Arbeitsfreudigkeit mit heimnehmen sollten, wenn sie zu den
kleinen Schulkindern ringsumher im Lande zurückkehrten.
Nur wenige Jahre nach dem Tode des alten Herrn hörte die Vorsteherin eines Sonntags, als sie die Kirche besuchte, daß der
Vorsteher auf Nääs ertrankt sei. Sie wußte, daß er in der letzten Zeit wiederholt an Herzschwäche
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