Niels Holgersens wunderbare Reise mit den Wildgaensen - Zweiter Teil
hatte. Der Vater hatte einen köstlichen Humor und erzählte oft so lustig,
daß die Mutter und alle Kinder sich beinahe krank lachten.
Die Zeit nach dem Tode der armen Frau erschien den Kindern wie ein böser Traum, Sie wußten nicht, ob sie kurz oder lang gewesen
war; sie wußten nur noch, daß daheim ein Begräbnis dem andern gefolgt war. Ihre Geschwister starben und wurden zu Grabe getragen,
eins nach dem andern. Sie hatten ja nicht mehr als vier Geschwister gehabt, folglich konnten es nicht mehr als vier Begräbnisse
gewesen sein, aber den Kindern kam es so vor, als seien es viel mehr gewesen. Schließlich war es so still und drückend daheim
in der Stube gewesen. Es war, als würde jeden Tag ein Begräbnis abgehalten.
Die Mutter hielt den Mut einigermaßen aufrecht, aber der Vater war wie umgewandelt. Er konnte weder mehr scherzen noch arbeiten,
sondern saß vom Morgen bis zum Abend da, den Kopf in den Händen und grübelte.
Einmal – es war nach dem dritten Begräbnis – brach er in wilde, verzweifelte Worte aus, die die Kinder bange machten. Er könne
nicht verstehen, sagte er, warum so ein Unglück über sie kommen müsse. Sie hatten ja doch ein gutes Werk getan, als sie der
Kranken beistanden. War denn das Böse hier in der Welt mächtiger als das Gute? Die Mutter hatte versucht, ihn zur Vernunft
zu bringen, aber es war ihr nicht möglich, ihn ruhig und ergeben in sein Schicksal zu machen, so wie sie selbst es war.
Ein paar Tage später verloren sie den Vater. Aber erstarb nicht; er ging davon. Es kam so, daß die älteste Schwester krank wurde, und die hatte der Vater immer am meisten geliebt.
Und als er sah, daß auch sie sterben mußte, entfloh er dem ganzen Elend. Die Mutter sagte nur, es sei am besten für den Vater,
daß er fort sei. Sie wäre bange, daß er sonst verrückt geworden wäre. Er grübele sich ja von Sinn und Verstand, indem er fortwährend
darüber nachdachte, warum Gott es einem bösen Menschen erlauben könne, all dies Unglück über sie zu bringen.
Als der Vater auf und davon gegangen war, wurden sie sehr arm. Anfangs schickte er ihnen Geld, aber dann war es ihm wohl schlecht
ergangen, und er schickte nichts mehr. Und an dem Tage, als die älteste Schwester begraben wurde, schloß die Mutter das Haus
ab und verließ mit den beiden Kindern, die ihr noch geblieben waren, die Heimat. Sie ging nach Schonen, um Arbeit auf den
Rübenfeldern zu suchen und bekam einen Platz in der Jordbergaer Zuckerfabrik. Die Mutter war eine tüchtige Arbeiterin und
hatte ein munteres und offenes Wesen. Alle hatten sie gern. Viele wunderten sich, daß sie so ruhig sein konnte nach allem,
was sie durchgemacht hatte. Aber sie war sehr stark und geduldig. Wenn jemand mit ihr über ihre beiden prächtigen Kinder sprach,
sagte sie nur: »Die sterben auch bald.« Das sagte sie, ohne daß ihre Stimme zitterte und ohne daß ihr Tränen in die Augen
traten. Sie hatte sich daran gewöhnt, nichts anderes mehr zu erwarten.
Aber es kam nicht so, wie sie erwartete. Statt dessen wurde sie selbst krank. Es ging schnell mit ihr, nochschneller als mit den kleinen Geschwistern. Sie war zu Anfang des Sommers nach Schonen gekommen, und als der Herbst kam,
waren die Kinder allein.
Wahrend die Mutter krank lag, sagte sie oft zu den Kindern, sie sollten stets daran denken, daß sie niemals bereut habe, die
kranke Frau bei sich aufzunehmen. Denn es sei nicht schwer zu sterben, wenn man recht gehandelt habe, sagte sie. Alle Menschen
müßten sterben, dem könne man nicht entgehen. Aber man könne selbst darüber bestimmen, ob man mit einem guten Gewissen sterben
wolle oder mit einem schlechten.
Ehe die Mutter starb, suchte sie noch ein wenig für die Kinder zu sorgen. Sie bat, daß die Kinder in der Kammer bleiben dürften,
in der sie alle drei den Sommer über gewohnt hatten. Wenn die Kinder nur eine Stelle hätten, wo sie wohnen konnten, würden
sie niemand zur Last fallen. Sie könnten sich selbst versorgen, das wisse sie. Die Kinder erhielten die Erlaubnis, die Kammer
zu behalten, wenn sie dafür versprechen wollten, die Gänse zu hüten, denn es ist immer schwer, Kinder zu finden, die diese
Arbeit übernehmen wollen. Es ging wirklich so, wie die Mutter gesagt hatte: sie versorgten sich selbst. Das kleine Mädchen
konnte Brustzucker kochen, und der Junge konnte allerlei Spielzeug aus Holz anfertigen, das er ringsumher auf den Bauernhöfen
verkaufte. Sie hatten
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